Wenn der Frost will, stehen die Räder still

■ Die Bundesrepublik auf dem Höhepunkt des kältesten Winters der Nachkriegsgeschichte

Wofür in Frankreich noch fast das gesamte Eisenbahnpersonal streiken müßte, schafft in der BRD ganz allein das Wetter - die Bundesbahn versinkt im Chaos. Ab 20 Grad minus geht bei den Leuten, die nicht vom Wetter reden, fast nichts mehr. Aber auch die Individualreisenden müssen häufig feststellen, daß sich ihnen ihr fahrbarer Untersatz verweigert. So zieht denn, mitten im Wahlkampf statt der Heißen Phase, eine gedämpfte Beschaulichkeit im Lande ein.

Die Spitzenmeldung des Berliner Rundfunks am Dienstag morgen ist bezeichnend für den Zustand der Republik: Das Thermometer, so hieß es, werde vorübergehend auf 14 Grad - minus, versteht sich - ansteigen. Nach Durchzug der Warmfront sei dann allerdings wieder mit weniger freundlichen Temperaturen zu rechnen. Zwei Wochen vor der Bundestagswahl beherrschen nicht etwa Spitzenmeldungen aus der Politik die Schlagzeilen, sondern die Kälterekorde aus den einzelnen Flecken der Republik. Unangefochten an der Spitze liegt der Südwesten. In Engstingen in Baden–Württemberg wurde der Minusrekord mit 32 Grad gemessen. Danach folgt Bayern, wo die Quecksilbersäule auf 29 Grad unter null abruschte. Der bundesdeutsche Rekord wurde am Münchener Flughafen nur knapp verfehlt, wo immerhin 26 Grad minus gemessen wurden, der Flugverkehr aber dennoch aufrechterhalten wird. Die größte Schlappe im Kampf mit dem Frost erleidet zur Zeit gerade die Institution, deren Werbetexter mit dem Spruch „Alle reden vom Wetter, wir nicht“ Furore machten. Die Bundesbahn redet zur Zeit nur noch übers Wetter. Angefangen vom geborstenen Gleis auf der Strecke Augsburg– München, über Schneeverwehungen, bei denen kein Durchkommen mehr ist, Hochspannungsleitungen, die wegen zu viel Schnees keinen Kontakt zur E–Lok mehr haben, bis zum lahmgelegten modernsten Rangierbahnhof der BRD in Hamburg, der wegen völliger Vereisung schlicht stillgelegt werden mußte. Das führt vom Totalausfall bis im besten Falle zu Verspätungen von rund einer Stunde. Etliche Strecken können schon deshalb nicht mehr benutzt werden, weil sie mit Güterzügen verstopft sind, die nicht mehr entladen werden können. Zwischen Hamburg und Salzgitter, Peine und Emden stehen Dutzende Ladungen mit Erz und Kohle, zu einem „einzigen Klumpen zusammengefroren“, herum. Versuche, die Waggons mit einem Flammenwerfer aufzutauen, hätten nichts genutzt: „Da wurden nur die Züge beschädigt, aufgetaut ist nichts.“ Obwohl die Süddeutschen heftiger frieren als die Nordlichter, trifft es diese dennoch härter. Schuld daran sind heftige Schnee fälle und ein stürmischer Wind, der meterhohe Schneewehen aufgetürmt hat. Zentrum des neuen Wintergefühls ist das Kreisherzogtum Lauenburg östlich von Hamburg. Im Landratsamt tagt der Krisenstab, vom Schnee eingeschlossene Dörfer und Weiher müssen vielleicht bald aus der Luft versorgt werden. In der Nacht von Montag auf Dienstag wurde ein absolutes Fahrverbot für Privatwagen erlassen, die, häufig liegengeblieben, den sowieso überlasteten Schneeplfügen den Weg versperrten. Freuen dürfen sich vor allem die Kids, da in etlichen Gemeinden Norddeutschlands die Schule ausfällt. Doch was den einen noch als angenehme Abwechselung in der Alltagsroutine erscheinen mag, wird für andere zu einem lebensgefährlichen Problem. Rund 100.000 „Berber“, im Behördendeutsch Leute ohne festen Wohnsitz, stehen bei minus 20 Grad auf der Straße - nach Angaben der Nichtseßhaftenhilfe oft ohne ausreichende Kleidung und ohne vernünftiges Essen. Sie verkriechen sich in öffentlichen Toiletten oder U–Bahnschächten - oft nicht einmal das. Es gibt Menschen, so Heinrich Holtmannspötter von der Bielefelder Nichtseßhaftenhilfe gegenüber ap, „die werden weggeräumt wie Schnee“. In den Kommunen will man diese Vorwürfe nicht gelten lassen. „Wer sich meldet“, so ein Sprecher der Düsseldorfer Stadtverwaltung, „wird auch untergebracht“. In Kiel z.B. hat die Stadtverwaltung Container aufgestellt, die beheizt werden, in Hamburg werden die Leute in Billigpensionen einquartiert. Trotzdem - im Winter 85, der insgesamt milder war, sind schon zehn Obdachlose erfroren. Wenig spricht dafür, daß es diesmal besser wird. Besserung dagegen hat die SPD ihren potentiellen Wählern versprochen. In Schleswig–Holstein versprach ihr Landesgeschäftsführer hoch und heilig: „Wenn wir regieren, werden wir nie wieder einen Wahlkampf in den Winter legen.“ Da es aber jetzt nun mal nicht mehr zu ändern ist, werden, statt den Wahlkampf einzustellen, „für den sich bei dieser Scheißkälte ohnehin niemand interessiert“ (die Grünen in Niedersachsen), die Mittel für die Propagandaschlacht erhöht. Plakate, die durch Frosteinwirkung herabfallen, müssen ersetzt werden, breit plakatierte Kohl–Köpfe durch spezielle Räumungskommandos wieder schneefrei geschaufelt und die Glühweinrationen erheblich heraufgesetzt werden. Einen besonderen Gag lieferte der Winter der FDP. Da aus Geldmangel die Stellwände der letzten Jahre nur neu beklebt worden waren, kommen im Raum Bonn nun unter Genschers Lächeln die Slogans der letzten Landtagswahl wieder zum Vorschein: „Die FDP muß in den Landtag“, vielleicht bleibt sie dann ja da. Jürgen Gottschlich