Erstmals öffentliche Diskussion über Tschernobyl in Ungarn

■ Diskussion in der Budapester Universität mit Umweltschützern und Vertretern der Atomlobby / Kritiker fordern bessere Information und Erschließung friedlicher Energiequellen

Aus Budapest Hubertus Knabe

Mit mehr als neunmonatiger Verspätung fand am Donnerstag in der ungarischen Hauptstadt die erste öffentliche Diskussion über die Konsequenzen aus der Reaktorkatastrophe in der Sowjetunion statt. In einem internen Rundbrief hatte der Naturschutzklub der Budapester Loran–Eötvös–Universität zu einem „Gespräch über die Atomenergie - Nach Tschernobyl“ eingeladen, zu dem rund 50 Interessierte erschienen. Der bescheidene Beginn der ungarischen Atomkraft–Diskussion erinnerte verblüffend an die mühseligen Anfänge der bundesdeutschen Anti–AKW–Proteste: auf der einen Seite das unbestimmte Unbehagen der Umweltschützer gegen die Atomenergie, auf der anderen der technologische Optimismus der Atomlobby, dazwischen ein abgestuftes Spektrum vorsichtiger Zweifler. Die Veranstaltung wurde mit dem Referat eines Mitarbeiters des Lehrstuhls für Atomphysik eingeleitet, der zunächst die ungarische Informationspolitik nach dem Reaktorunfall kritisierte. Die Medien hätten bei den Menschen Unsicherheit erzeugt, als sie verkündeten: „Es herrscht keine Strahlung, aber sie sinkt beständig.“ In diesem Jahr hätte die Bevölkerung dagegen soviel Strahlung abbekommen wie sonst in 30 Jahren. In der nachfolgenden Diskussion erklärten die Vertreter der ungarischen Atomlobby, daß nur eine „unvorstellbare Schlamperei“ zu der Katastrophe in Tschernobyl habe führen können. Die Gegenposition wurde während der Debatte von offiziellen und inoffiziellen Umweltschützern vertreten, unter ihnen auch der Sprecher der Initiaive gegen das Donau–Staustufen–System, Janos Vargha. Die Lehre aus Tschernobyl laute, andere Energiequellen zu erschließen und den Energieverbauch gleichzeitig einzuschränken. Die Kernspaltung diene militärischen Zielen und stärke den Weg der atomaren Blockbildung. Als Energiequelle sei sie ineffektiv, kurzsichtig, vom Terrorismus gefährdet, und niemand wisse, wohin mit dem Müll.