: „Auf, Magyaren, die Heimat ruft“
■ 5.000 Menschen demonstrierten in Budapest für Demokratie und nationale Identität / Polizei läßt Kundgebung unbehelligt Redner fordern Freiheit und Abzug der sowjetischen Truppen / Friedlicher Verlauf auch ein Erfolg für ungarische Innenpolitik
Aus Budapest Hubertus Knabe
Rund 5.000 Menschen haben am Sonntag in der ungarischen Hauptstadt an einer nicht genehmigten Demonstration aus Anlaß der bürgerlichen Revolution vom 15. März 1848 teilgenomen. Die Kundgebung, die auch als ein Test auf die ungarische Innenpolitik nach den neuen Signalen aus Moskau betrachtet wurde, verlief ohne Zwischenfälle. Wie in den vergangenen Jahren versammelten sich zahlreiche, meist jüngere Menschen am Denkmal des Nationaldichters Sandor Petoefi, der vor 139 Jahren mit seinem Gedicht „Auf, Magyaren, die Heimat ruft“ den Auftakt zur Revolution gegeben hatte. Von da aus zog die Menge dann in die Budapester Innenstadt. Die Demonstranten sangen die Nationalhymne von Ungarn und die von Siebenbürgen, jenem früher zu Ungarn gehörenden Teil Rumäniens, wo zwei Millionen Ungarn mit einer verschärften Politik der Zwangsassimilierung konfrontiert sind. In den fünfziger Jahren konnte der 15. März im sozialistischen Ungarn nur inoffiziell gefeiert werden. Es war untersagt, Kokarden in den Nationalfarben zu tragen, Polizeikräfte lösten jede Ansammlung brutal auf. Seit einigen Jahren ist jedoch zu beobachten, daß die ungarische Führung das geschichtsträchtige Datum nicht länger als Tag von Polizeieinsätzen begehen und der Opposition überlassen. In den Schulen malt man ungarische Fähnchen und rezitiert das Petoefi–Gedicht, auf den Stufen des Nationalmuseums wird der Beginn der Revolution mit einem historischen Schauspiel begangen. Selbst unter Polizisten ist es inzwischen schick geworden, an diesem Tage demonstrativ die nationalen Farben anzulegen. In diesem Jahr war der 15. März wegen der Veränderungen in der Sowjetunion und der wachsenden Unzufriedenheit in der ungarischen Gesellschaft mit Spannung erwartet worden. Statt der von manchen befürchteten härteren Gangart gegenüber der illegalen Demonstration, hatten die Ordnungskräfte jedoch offensichtlich die Anweisung, dem Zug mit Toleranz zu begegnen. Polizisten hielten den Verkehr an und griffen auch dann nicht ein, als der ungarische Oppositionelle Gyoergy Gado vor die Teilnehmer trat, um eine mutige Rede zu halten. Gado war selber wenige Tage zuvor Opfer einer Welle von Hausdurchsuchungen geworden, mit der die ungarische Führung auf das Anwachsen der oppositionellen Aktivitäten reagiert hatte. In seiner Ansprache forderte er eine konsequente Fortsetzung der ungarischen Reformpolitik und drückte die Hoffnung aus, daß man sich eines Tages in ähnlicher Form auch am (bis heute geheimgehaltenen) Grab von Imre Nagy, dem hingerichteten Ministerpräsidenten des Volkaufstandes von 1956, versammeln können werde. „Es lebe die Freiheit“, schloß Gado unter dem Beifall der Zuhörer seine Rede, „es lebe die ungarische Demokratie, es lebe die demokratische Opposition.“ Der Oppositionelle Tobor Pakh, der bis 1973 im Gefängnis gesessen hatte, forderte in seiner Rede den Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, die 1956 den Aufstand niedergeschlagen hatten. Trotz dieser auch für den ungarischen Sozialismus ungewöhnlichen Vorkommnisse kann die diesjährige Demonstration auch als ein Erfolg der Parteiführung unter Janos Kadar betrachtet werden. Das tolerante Auftreten gegenüber dem früher bekämpften Feiertag hat nämlich mehr und mehr zu dessen Verstaatlichung geführt und dem diesjährigen Zug durch Budapest zuweilen den Charakter eines Familienausflugs verliehen. Wie um diese Politik zu einem krönenden Abschluß zu führen, trat am Ende der Demonstration eine offizielle Rednerin nach vorne und drückte ihre Freude über den friedlichen Verlauf der Demonstration aus. Siehe auch Seite 8
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