Die Legende vom Tod eines Einzeltäters

■ In Göttingen starb beim Bombenbasteln kein „Einzelgänger ohne Hintermänner“, sondern ein aktiver Neonazi / Zunehmende Aktivitäten und Militarisierung rechtsradikaler Gruppen versetzen Polizei und niedersächsisches Innenministerium „nicht in Sorge“ / Protest gegen Aktivitäten der rechtsextremen FAP

Aus Göttingen Reimar Paul

Am 16. Januar starb in Göttingen der 22jährige Ingo Kretschmann beim Hantieren mit einer selbstgebastelten Bombe. Er hatte eine Kohlensäurepatrone mit Sprengstoff gefüllt, eine Lunte angebracht und in Brand gesetzt. Als Kretschmann den Sprengkörper aus einem Fenster seiner Wohnung werfen wollte, kam es vorzeitig zur Explosion. Dem Mann wurde eine Hand abgerissen, Patronensplitter drangen in die Halsschlagader. Kretschmann verblutete, bevor der von Nachbarn alarmierte Notarztwagen eintraf. Die Polizei durchsuchte die Wohnung und verhängte eine Nachrichtensperre, denn es würde brisantes Material zu Tage gefördert: größere Mengen Sprengstoff und mehrere Waffen, darunter 400 Gramm Schwarzpulver, ein Kilogramm eines zur Herstellung von Sprengsätzen geeigneten Unkrautvernichtungsmittels, 16 leere Kohlensäurepatronen, ein Schieß–Kugelschreiber, Reizstoffpatronen, Schlagringe und Schlagstöcke sowie mehrere Bauanleitungen für Bomben. Gefunden wurden aber auch Mitgliederausweise der NPD und ihrer Jugendorganisation (JN), NS–Literatur und diverse rechtsextremistische Zeitschriften. Politisch „relativ unauffällig“ Als die ersten Informationen über den heißen Fund an die Öffentlichkeit sickerten, inszenierten die Polizei und das niedersächsische Innenministerium die Legende vom toten Einzeltäter. Kretschmann, so ein Polizeisprecher am 18.1. gegenüber der Presse, habe lediglich „Kontakte“ zur NPD gehabt und sei „politisch kein großes Licht“ gewesen. Die Kriminalpolizei gehe davon aus, daß der Verstorbene ein „Einzelgänger ohne weitere Hintermän ner“ gewesen sei und alleine gearbeitet habe. Einen Tag später räumte das Innenministerium zwar ein, daß Kretschmann JN– Mitglied und den „zuständigen Dienststellen“ bekannt war; doch habe man ihn als „relativ unauffällig“ eingeschätzt. Ein organisiertes, neo–nazistisches Umfeld existiere überdies in Göttingen nicht bzw. spiele sich „als Zirkelwesen überwiegend im stillen Kämmerlein“ ab. Der Tod des Bombenbastlers und das entdeckte Waffenlager rechtfertigten „nicht die Sorge, daß der Rechtsextremismus in Göttingen im Aufwind wäre“; schließlich seien hier „keine Straftaten rechtsradikaler Gruppen bekannt“. Was oder wer die Polizei und ihre vorgesetzte Dienstelle zu dieser Sicht der Dinge veranlaßte, anstatt zum Beispiel den Fragen nachzugehen, woher die Waffen in Kretschmanns Wohnung kamen und was damit unternommen werden sollte, muß zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Dunkeln bleiben. Tatsache ist, daß diese Sicht mit der Wahrheit nicht viel zu tun hat. Und Tatsache ist ebenfalls, daß die Polizei die Wahrheit kennt, sie aber unterdrückt und die Öffentlichkeit somit wissentlich täuscht: Weder war Ingo Kretschmann ein „Einzeltäter“ noch agieren die rechtsradikalen, neo–nazistischen Organisationen in Südniedersachsen im „stillen Kämmerlein“. Von wegen „unpolitisch“... Kretschmann war vielmehr ein aktiver und in informierten Kreisen auch bekannter Neonazi. Einige markante Stationen seiner politischen Laufbahn belegen das: - Mitarbeit bei der rechtsradikalen Göttinger Schülerzeitung Komet; - Bundeswehrdienst beim Pionierbataillon in Hann.–Münden, wo er nicht nur das Hantieren mit Waffen lernte, sondern, laut In formationen des Norddeutschen Rundfunks, auch durch nazistische Hetztiraden auffiel; - Teilnahme an verschiedenen „Wehrsportübungen“ und Experimenten mit selbstproduzierten Sprengkörpern; - Mitgliedschaft bei der NPD und den JN; - enger Kontakt zu Hans–Michael Fiedler, einem der bedeutendsten Multi–Funktionäre der bundesweiten Nazi–Szene mit nachweislichen Verbindungen in den rechtsterroristischen Untergrund; - enge Kontakte zur Freiheitlichen Deutschen Arbeiter–Partei (FAP), v.a. zu deren Schriftführer Karl Polacek, in dessen Haus Kretschmann im Sommer 1986 wohnte; - mehrfache Vorstrafen u.a. wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Am 25. Januar dieses Jahres wurde ein Brandanschlag auf ein vorwiegend von türkischen Jugendlichen besuchtes Göttinger Jugendzentrum verübt. Das Gebäude brannte fast völlig aus, es entstand Sachschaden in Höhe von 500.000 Mark. Nach Recherchen der Grün–Alternativen Liste ist Kretschmann am selben Tag beerd dem Jugendzentrum gegeben habe. Dabei soll das „Wegmachen der Bude“ mehrmals angedroht werden sein. Dezember 1986: Gleich viermal wurden Brandanschläge auf das Asylbewerberwohnheim in Gronau bei Hildesheim verübt. Eine bis dahin in der Öffentlichkeit nicht bekannte Organisation namens „Freies Deutschland“ meldete sich mit einem Bekennerbrief: „Das war nicht der letzte Anschlag, jetzt fliegen Handgranaten.“ Seit ca. einem Jahr ist die Gemarkung des Dörfchens Mackenrode in der Nähe von Göttingen Schauplatz vielfältiger Aktivitäten der rechts–terroristischen FAP und befreundeter Gruppen. Dabei werden Nahkampf– und Wehrsportübungen veranstaltet, Hakenkreuze und Nazi–Parolen gesprüht, Einwohner angepöbelt oder „Ausweiskontrollen“ bei Autofahrern durchgeführt. Ein Höhepunkt war kurz vor Weihnachten ein Fackelzug in den Göttinger Wald, wo die FAP–Truppe ein meterhohes Sonnenwendfeuer entfachte. Ausgangspunkt und Basislager für diese Aktionen ist das Mackenröder Anwesen des schon erwähnten Ex–NPD– und gegenwärtigen FAP–Mannes Karl Polacek, der auch Kretschmann für mehrere Monate beherbergte. Mitte Januar wandten sich die über 80 Teilnehmer einer Mackenröder Bürgerversammlung in scharfer Form gegen die „neonazistischen Umtriebe“: „Die Anwohner fühlen sich von dem Lärm ..., von der rüden Ausdrucksweise und den nazistischen Parolen in unertäglicher Weise belästigt ...“ Vor wenigen Wochen ging ein Prozeß gegen zwei frühere Göttinger FAP–Mitglieder mit Veurteilungen zu Gefängnisstrafen wegen schwerer gemeinschaftlicher Körperverletzung zu Ende. Die Neonazis hatten im vergangenen Sommer einen homosexuellen Mann aus einer Diskothek zu einem Parkplatz gelockt und ihn dort zusammengeschlagen und brutal mißhandelt. Überfälle von Neonazis und rechten Skinheads sind in der letzten Zeit in Göttingen häufig zu verzeichnen gewesen. So verprügelten Skinheads mehrfach auf offener Straße langhaarige Kneipenbesucher. Mehrfach wurden auch im Gebäude des Allgemeinen Studenten–Ausschusses und des linken Buchladens der Stadt die Scheiben eingeworfen - öfters verbunden mit Nazi–Schmierereien und Fragmenten von „Bekennerbriefen“. Möglicherweise geht auch ein Brandanschlag auf das ehemalige Göttinger Frauenzentrum am 23.1. auf das rechte Konto; in einer Stellungnahme des Frauenplenums wird der enge zeitliche Zusammenhang mit den Angriffen auf Ausländer/innen, Asylbewerberwohnheime und linke Einrichtungen herausgestellt. „Die zunehmende Militarisierung und Formierung der Faschisten ist ... trotz aller Vertuschungs– und Verharmlosungsversuche seitens der Polizei und Innenministerium offensichtlich geworden.“