: Der Druck, richtig zu lieben
■ Kritische Auseinandersetzung einer „Liebessüchtigen“ mit dem Krankheitsbild und der Therapie
Vor Weihnachten finde ich im Buchladen „Wenn Frauen zu sehr lieben“. Ein Buch zur Liebe und das zur Weihnachtszeit. Ich blättere in dem Buch, dabei geht mir ein Gedanke durch den Kopf: Könnten meine phasenweisen Beziehungsschwierigkeiten mit „zu sehr lieben“ zu tun haben? Das Buch ist teuer, aber wenn es um Liebe geht, scheue ich keine Kosten. Wobei die Kosten der Liebe ja nur bedingt finanzieller Natur sind, d.L. Ich schlage das Buch auf und lese gleich im Vorwort: „zu sehr lieben ist in erster Linie ein weibliches Phänomen“, das Lebensschwierigkeiten nach sich zieht. Ich empfinde die Erklärung als zu einfach. Denn nicht umsonst habe ich mich im Studium mit feministischen Theorien beschäftigt. Ich meine, daß es innerhalb der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung die gesellschaftliche Aufgabe der Frauen ist, für die Liebe zuständig zu sein. Ich bin sauer, weil den Frauen zugeschoben wird, liebeskrank zu sein. Kaum habe ich das verdaut, werde ich aufgefordert, sehr kritisch mir gegenüber zu sein. „Wenn die Bezeichnung zu sehr lieben auf Sie zutrifft und die Lektüre Sie trotzdem kalt läßt, wenn Sie sich dabei langweilen“, soll ich das Buch zu einem späteren Zeitpunkt lesen. Denn gelegentlich müssen Erkenntnisse abgewehrt werden, steht dort, weil sie zu schmerzhaft oder bedrohlich sind. Ich lese also sehr selbstkritisch, dabei überlege ich, ob ich mich mit den Frauen in dem Buch identifizieren kann. Anhand von Lebensbeschreibungen wird detailliert aufgeführt, was Frauen im Namen der Liebe alles zustande bringen. Mir fallen Freundinnen ein, für die die Beschreibungen zutreffen würden. Ich verspüre den Druck, dieses Buch näher an mich rankommen zu lassen zu müssen. Warum kann ich mich noch nicht mit den Beschreibungen identifizieren? Muß ich das beschriebene Phänomen abwehren? Endlich kann ich aufatmen: in der Mitte des Buches steht es. Auch ich liebe zu sehr! An meinem Arbeitsplatz, einem Frauenprojekt, biete ich eine Gesprächsgruppe zu diesem Buch an und bin erstaunt. Es kommen eine Menge Frauen, fast alle haben das Buch gelesen, alle sind betroffen und wollen an sich arbeiten. Die Vorstellung davon, was Liebe ist, wird nicht individuell, sondern gemeinsam entwickelt. Aber in dem Buch wird die Gesellschaft nie problematisiert. Hier wird nur von der dysfunktionalen Familie gesprochen, die „liebessüchtige“ Frauen hervorbringt. Ich habe mich gefragt, was denn eine funktionale Familie ist, gibt es eine solche überhaupt und wie sieht sie aus? R. Norwood schlägt uns als Lösung vor, eine Selbsthilfegruppe zu gründen, wo die Liebes–Beziehungsmuster zur Sprache gebracht werden. Nun aber wird sichtbar, wie kriminell und politisch gefährlich ihre Lösungsvorschläge sind. Ich soll alles, was ich nicht bewältigen kann, einer Macht übergeben, die größer ist als ich. Eine Selbsthilfegruppe kann als höhere Macht angesehen werden. Wonach verlangt sie, nach einem System mit festen Strukturen? Oder wir sollen eine eigene Spiritualität entwickeln, das heißt den „Eigensinn aufgeben“, uns einer Anleitung anvertrauen, passiv sein. Sich vorsagen: „Ich bin voller Glück, Freude und Erfüllung“, dann läufts. Aber im Grunde bleibt sie mit ihren Ratschlägen in ihren eigenen Widersprüchen befangen. „In einem dysfunktionalen Familiensystem spielen die Mitglieder starr festgelegte Rollen“, es herrschen strikte Kommunikationsregeln und das ist die Ursache der Liebessucht. Die Ursache soll mit der Ursache behoben werden, denn die Selbsthilfegruppe mit festgelegten Regeln ist die Rettung. Ohne die Familiengruppe verlieren Frauen (vielleicht auch Männer) die Orientierung. Also brauchen wir alle eine stabile, funktionierende Selbsthilfegruppe, die die Funktion der Familie übernimmt? Und was mach ich, wenn meine Selbsthilfegruppe „dysfunktional“ ist? d.L. Antonia Brinker, Mitarbeiterin bei BeTS–PSIFF, Berlin
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