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Chatila nach der Blockade

■ An ein Ende des Lagerkrieges glaubten die Palästinenser kaum noch / Sicherheit bleibt wichtigstes Thema Zur Normalisierung des Lebens noch ein weiter Weg / Amal–Milizionäre haben gut verdient

Beirut (dpa/taz) - Menschen kauern auf dem Boden, erstarrt vor Ungläubigkeit und Verwirrung über den plötzlichen Ansturm Fremder auf ihr trostloses Fleckchen Erde, über Monate von der Außenwelt vergessen. Einige Kinder spielen zwischen Schutt und eingestürzten Mauern. Krankenwagen des libanesischen Roten Kreuzes bahnen sich einen Weg durch das Labyrinth des Elends, durch schmutzige, dunkle Gassen, vorbei an Hütten, Baracken und zerstörten Häusern. 3.200 Palästinenser überlebten die Hungersnot im Lager Chatila. Ihre Nahrung bestand aus Wasser und zerstoßenen Weizenkörnern. Doch waren auch Berichte nach draußen gelangt, nach denen Kinder alles gegessen haben sollen, was ihnen in die Hände kam: Hunde, Katzen und Gras. Krankheiten und Unterernährung breiteten sich rapide aus. „Wir haben nicht mehr an ein Ende des Krieges geglaubt“, sagt Abu Ali, ein etwa 70jähriger Mann. Er entschuldigt sich, daß er am hellichten Tag in seinen blau– weiß gestreiften Schlafanzughosen auf der Gasse steht und lädt zum Kaffee, dem ersten seit Mo naten. Seine Frau ist eben vom Einkaufen außerhalb von Chatila, den Gassen des ehemaligen Lagers Sabra, zurückgekehrt. Seit Dienstag nachmittag, als Einheiten der syrischen Spezialtruppen an den Frontlinien von Chatila aufgezogen sind, sind zwar eine Feuerpause und die Lockerung der Blockade garantiert, aber solange die vollbewaffneten Milizionäre der Schiitenbewegung Amal und die Soldaten der sechsten Brigade der libanesischen Armee in ihren Stellungen verbleiben, können sich vor allem die Männer Chatilas nicht sicher fühlen. „Dennoch“, sagt ein Palästinenser, begrüßen wir diesen Schritt der Syrer, solange es der Sicherheit des Camps dient, sind die syrischen Soldaten willkommen.“ Vorerst bleibt die Sicherheit wichtigstes Verhandlungsthema neben der Versorgung des Lagers. Kaum vorstellbar sind die Massen von Fladen–Brot, die die Frauen Chatilas heute ins Lager geschleppt haben. Kaum vorstellbar, daß diese Menge wirklich gegessen wird, auch wenn Brot Hauptnahrungsmittel ist. Auch während der Belagerung gab es - begrenzt und für teures Geld - Waren zu kaufen: Zigaretten, getrocknete Bohnen und andere Nahrungsmittel. „Ein paar der Amal–Milizionäre haben sich eine goldene Nase an uns verdient“, meint ein Mann. „So ist das eben im Krieg, das kann ich ihnen auch gar nicht übel nehmen. Und auf unserer Seite gibt es natürlich die entsprechenden Zwischenhändler.“ Omar, ein 13jähriger pausbäckiger Junge, bittet mich, ihm demnächst eine Riesentafel Schokolade mitzubringen. „Dann wäre ich rundum glücklich“, sagt er und streicht sich den Leib. Für diesen kurzen Augenblick hat Omar die fast 15 Zentimeter große, eiternde Narbe auf seinem Kinderbauch vergessen. Im Dezember hatte ihn die Kugel eines Scharfschützen erwischt.

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