: Raketen–Einmaleins
■ Ausgangslage für Verhandlungen im Mittelstreckenbereich
Im Herbst 1986 hatte die Sowjetunion insgesamt 441 SS 20–Raketen mit jeweils drei Sprengköpfen stationiert, davon 270 Systeme im europäischen Teil und 171 östlich des 80. Längengrades. (NATO–Angaben.) Die NATO hatte im Oktober 1986 108 Pershing–II–Raketen und 192 Marschflugkörper in Westeurpa stationiert. (Ende 1988 soll die Stationierung aller 572 Mittelstreckenwaffen abgeschlossen sein). Diese Raketen, so lautete die Übereinkunft beider Großmächte in Reykjavik, sollen auf eine sogenannte „globale Obergrenze“ von jeweils 100 Sprengköpfen auf beiden Seiten verringert und in den USA bzw. im asiatischen Teil der Sojwetunion stationiert werden. (Nicht mitgezählt werden bei diesen Verhandlungen die sechs dem NATO–Oberbefehlshaber in Europa unterstellten „Poseidon–U– Boote“ mit ca. 800 Atomsprengköpfen, vier britische „Polaris–U–Boote“ mit 192 Atomsprengköpfen sowie sechs französische U–Boote mit 172 Sprengköpfen. Gorbatschow hat auf die Einbeziehung der französischen und britischen Potentiale verzichtet und damit die NATO–Position akzeptiert.) Bei den mit Unterbrechungen bereits seit Jahren andauernden INF–Verhandlungen in Genf ging und geht es bislang ausschließlich um Mittelstreckenraketen größerer Reichweite. Seit Gorbatschow jedoch auf die vom Westen seit dem berüchtigten NATO–Doppelbeschluß angebotene Null–Lösung eingeschwenkt ist, sind plötzlich die Atomraketen im Gespräch, die die NATO in den Verhandlungen früher nie zum Thema machen wollte: die Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichtweite (150–1.000 km Reichweite, auch SRINF genannt) sowie die atomaren Kurzstreckenraketen (0–150 km Reichweite, auch SNF genannt). Gorbatschow stellte Politiker wie Militärs in den USA und in Westeuropa vor einen Offenbarungseid: Die genialen Erfinder der „Null–Lösung“ von einst konnten nun schlecht offen ablehnen, was sie der Sowjetunion 1983 als Verhandlungsposition angeboten hatten. Statt dessen hat sich der überwiegende Teil der Bundesregierung jetzt auf das „Übergewicht“ des Warschauer Paktes im Bereich der Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite (SRINF) und der Kurzstreckenwaffen (SNF) gestürzt. Die Ironie dieser Diskussion: Als nach dem Beginn der NATO– „Nachrüstung“ im Jahre 1983 die Sowjetunion begann, Atomraketen des Typs SS–12 mod (Reichweite 900 km) in der DDR und CSSR zu stationieren, wurden diese Raketen von derselben Bundesregierung für völlig ungefährlich erklärt. Auch im „Abrüstungsbericht“ der Bundesregierung aus dem Jahre 1985 hieß es noch: „Im Bereich der SRINF–Raketen (Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite) hat die Sowjetunion inzwischen circa 50 SS–12/22 in die DDR und CSSR vorverlegt. Diese Maßnahme hat...keine neue Bedrohung für Europa bewirkt.“ Nach NATO–Angaben stellt sich das Kräfteverhältnis wie folgt dar: Heute fordert die NATO ein „Recht auf Ausgleich“, sprich eine weitere „Nachrüstung“ im Bereich der Atomraketen kürzerer Reichweite (500–1.000 km). Das amerikanische sowie das bundesdeutsche Verteidungsministerium sind offenbar fest entschlossen, im Falle eines Abkommens die Pershing–II auf eine Pershing Ib (Reichweite 700 km) umzurüsten. Jetzt hat Gorbatschow auch die Verschrottung dieser Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite angeboten. Bleiben die Kurstreckenwaffen: Die USA wollen bisher nur über die Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite, nicht über die Kurzstreckenwaffen in einer Reichweite von 0–150 km verhandeln. Die Lance–Raketen (und die vom Westen geplante „Modernisierung“ der Lance) wären damit ausgeklammert. Die Sowjetunion will über alle Kurzstreckenwaffen verhandeln. Ursel Sieber Tabelle aus: Hessische Stiftung für Friedens– und Konfliktforschung: Von der Rüstungskontrolle zur Abrüstung? HSFK–Report 1/1987, 6000 Frankfurt am Main, Leimenrode 29
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