: Das große Zittern in der Szene
■ Neben der strategischen Bedeutung des Machtwechsels in Hessen zeichnen sich auch erste praktische Konsequenzen ab: die finanzielle Austrocknung der Alternativszene / Ein Bericht von Michael Miersch
Der Machtwechsel in Hessen bedeutet nicht nur das Aus für die Fossiliengrube Messel und den gesicherten Einstieg in den Plutoniumstaat, mehr Autobahnen und weniger Gesamtschulen. Das Ende der rot–grünen Koalition wird für viele ganz private und ganz materielle Konsequenzen haben. Mit Millionenbeträgen hatte das Land in den vergangenen Jahren Frauenprojekte und selbstverwaltete Betriebe gefördert. Walter Wallmann hat bereits angekündigt, daß er diese Mittel über einen Nachtragshaushalt „umschichte“ will. Allerdings hat kein Vertreter der neuen Koalition bisher verraten, wie weit diese „Umschichtung“ gehen soll. Autonome Frauenprojekte rechnen mit dem Ende der Landeszuschüsse.
„Ich habe keine Berührungsängste“, sagt Burkhard Bluem vom Verband der selbstverwalteten Betriebe Hessen. Er wünscht sich, daß die neuen Herren in Wiesbaden endlich konkret sagen, was sie mit dem „Programm zur Förderung selbstverwalteter Betriebe auf genossenschaftlicher Basis“, in der Alternativszene unter dem Namen „Hessenknete“ bekannt, vorhaben. Doch bisher gibt es „keine Aussage, wens trifft, nur allgemeine Angstmache“. Treffen wird es aller Voraussicht nach die Antragsteller, die ihr Existenzgründungskonzept gerade ausgearbeitet haben und deren Anträge noch nicht bewilligt worden sind. 75 Anträge liegen im Wiesbadener Wirtschaftsministerium noch ungeprüft in der Schublade. Dagegen muß auch von der neuen Regierung dort ausgezahlt werden, wo Bewilligungsbescheide schon unterschrieben worden sind. Glück für die sechs Alternativbetriebe, deren Kreditwünsche bei der letzten turnusmäßigen Sitzung der Vergabekommission am 3. April noch berücksichtigt wurden. Die Kommission aus drei Regierungsbeamten und drei Vertretern der Projekträte hat in den Vergangenen Jahren 14.106.520 Mark bewilligt. Allerdings nicht in Form von „Geldgeschenken an grüne Aussteiger“, wie es empörte CDU–Abgeordnete gerne darstellen, sondern zum ganz überwiegenden Teil als Zinsgünstige Darlehen für Kleinbetriebe, die zwar keinen Chef, aber ein erfolgversprechendes ökonomisches Konzept vorweisen mußten. Die Finanzierung wurde detailgenau geprüft, und die Rückzahlkonditionen unterscheiden sich kaum von anderen Wirtschaftsförderprogrammen. Wenn auch nicht alle Wünsche alternativer Projektplaner in Erfüllung gingen, in den 150 Betrieben, die Kredite oder Zuschüsse bekommen haben, wurden über 200 Arbeitsplätze und 50 Ausbildungsplätze neu geschaffen. In Wiesbaden sind die Töne nach dem Wahlsieg moderater geworden. Nach der Koalitionsrunde am vergangenen Dienstag wetterte CDU–Generalsekretär Manfred Kanther zwar immer noch gegen „Sondervergünstigungen aus ideologischen Gründen“, kündigte jedoch eine Bestandsaufnahme an, bei der man prüfen werde, wo es „vernünftige Programme“ gibt. Otto Wilke von der FDP betonte im Hessischen Rundfunk, daß Alternativprojekte auch von konventioneller Unternehmensförderung profitieren könnten. Doch bei einem Haushaltsposten sind sich beide einig, daß er vom Tisch muß. Die „Stiftung nachbarschaftliche Träger“ soll so schnell wie möglich zugemacht werden. Sie kommt hauptsächlich einer Mieterinitiative in Frankfurt–Sachsenhausen zugute. Dort hatten sich Bewohner der „Heimatsiedlung“ erfolgreich gegen einen Verkauf ihrer Wohnungen durch die Neue Heimat gewehrt. Das Land Hessen hatte die „Heimatsiedlung“ erworben und wollte sie in ein Genossenschaftsmodell unter weitgehender Selbstverwaltung der Mieter überführen. Die Genossenschaft sammelte auf die Zusage hin 250.000 Mark Eigenbeteiligung der Mieter ein. Otto Wilke: „Für so ein Projekt gibt es im Grunde keinen Bedarf.“
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