: Russisch–Roulette in französischen AKWs
■ Hunderte von Kilometern defekter Kontrollkabel befinden sich in mindestens 20 Atomreaktoren / Seit 1982 wurde der Skandal der Öffentlichkeit vorenthalten / Das Funktionieren der Notabschaltungen ist dadurch in Frage gestellt / Ohnehin hat Frankreich die höchste Quote an Notabschaltungen aller westlichen Atomstaaten
Aus Paris Mycle Schneider
Der Pilot bekommt das Okay vom Tower, das Linienflugzeug rollt auf die Startbahn, beschleunigt und hebt ab. Bei der Routinekontrolle der Anzeigen–und Messgeräte stellt sich heraus, daß eine kleine Leuchte aufblinkt, die eigentlich erloschen sein sollte. Der Flugkapitän teilt den Passagieren mit, daß die Maschine zwecks Sicherheitsüberprüfung noch einmal zurückkehren müsse. Und dies, obwohl die Kontrollen bei früheren Gelegenheiten jedesmal einen harmlosen Wackelkontakt ergeben haben. „Das nennt man Sicherheitskultur“, weiß Pierre Tanguy, oberster Boß für die Sicherheit französischer Atomkraftwerke bei der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft EDF. Der Mangel an eben dieser „Sicherheitskultur“ belehrt uns Tanguy in einer „öffentlichen Vorlesung“ an der Pariser Universität Sorbonne, habe in der Sowjetunion zu der Katastrophe von Tschernobyl geführt. Aber hat Frankreich eine atomare Sicherheitskultur? Der Unfall, der am 14. April 1984 im Block 5 des Atomkraftwerks in Bugey, 60 km östlich von Lyon, fast zum Desaster geführt hatte (siehe taz vom 1.10.86), erinnert auf erstaunliche Weise an Tanguys aeronautische Parabel. Der Unfall in Bugey Der Kontrollraum eines Atomkraftwerks enthält zwischen seinen Armaturen zahlreiche gekoppelte Alarmsysteme, das Aufleuchten einer Anzeige kann also verschiedene Fehlerquellen signalisieren. In einem Handbuch schlägt das Bedienungspersonal nach und checkt dann jede Möglichkeit ab, bis es den Fehler gefunden hat. In der Nacht des 13. April 1984 erweckte das Aufblinken einer solchen KontrollLeuchte nicht die Aufmerksamkeit des Personals in Bugey. Seit Tagen leuchtete dieses Lämpchen, und das nicht zum ersten Mal. Man glaubte zu wissen, daß es sich wie bisher immer um einen Isolationsfehler im Kabelsystem handelte, einer der vier Defekte, die das System signalisiert. Man hatte es schließlich dutzende Male verifiziert. Doch in dieser Nacht handelte es sich um einen Spannungsabfall im Steuersystem, die zweite mögliche Fehlerquelle. Die Spannung brach zusammen, Batterien entluden sich, der 900 MW–Reaktor verlor eine Stromquelle nach der anderen. Die anwesenden Sicherheitsingenieure bekamen es mit der Angst, denn ein solcher Störfall war nicht vorgesehen, und ohne Strom ist ein Reaktor nicht zu kontrollieren. Nachdem auch eines der beiden Notstromaggregate versagte, sprang schließlich der zweite Dieselgenerator an. Wieder einmal war man im letzten Moment an der Katastrophe vorbeigeschlittert. Mangelt es da nicht, genauso wie in Tschernobyl, an Sicherheitskultur, frage ich Pierre Tan guy. Aber nicht doch, es handelt sich um einen Konzeptionsfehler, antwortet der Generalinspekteur der EDF, die Signalisierung der Isolationsfehler hätte nicht mit anderen Alarmsystemen gekoppelt werden dürfen. Dies sei inzwischen geändert worden. Ob gekoppelter oder separater Alarm, „Isolationsfehler“ seien „zahlreich“, heißt es in einem technischen Bericht, der den Bugey–Unfall analysiert. „So kommt es nicht selten vor“, liest man da, „daß ein solches Alarmzeichen mehrere Tage lang aufleuchtet, da die Suche der Fehler lang und schwierig ist. Der Alarm kann jederzeit verschwinden und wieder auftauchen. Dies bringt eine gewisse Gewohnheit des Bedienungspersonals mit sich, bestimmte Alarmsignale abzuhaken, ohne deshalb auch der entsprechenden Vorschrift nach gehandelt zu haben.“ Mangelnde Sicherheitskultur? In Wahrheit hatten die Kontrollraum–Techniker nicht die gering ste Chance, denn sie müssen seit Jahren mit einem Problem leben, dessen Lösung Unsummen kosten würde. Im Oktober 1980 stellte ein für die Elektroinstallationen zuständiger Ingenieur in zwei Atomkraftwerken, Tricastin und Dampierre, ein „Schwitzen“ der Steuer– und Kontrollkabel fest. Diese Kabel transportieren alle Informationen, die im Kontrollraum ankommen, und die Steuersignale, die den Kontrollraum wieder verlassen. Die im Laufe des Jahres 1981 durchgeführten Untersuchungen zeigten, daß in der Nähe solcher Tropfen an den Kabelenden der Isolationswiderstand mit zunehmendem Alter der Kabel „beträchtlich sinkt“. Die betroffenen Kabel stammen ausschließlich von der Firma Crosne. Erst am 15. Januar 1982 informierte EDF den Zentralen Sicherheitsdienst für Atomanlagen (SCSIN) über das Problem. Der SCSIN widmete dem Vorgang eine kleine Notiz in seinem zweimonatlichen Bulletin SN und teilte mit, daß EDF „die nötigen zusätzlichen Untersuchungen eingeleitet hat, um die Ursache des Phänomens ausfindig zu machen. ... bis die Ergebnisse bekannt sind ... verstärkte Überwachung ...“ etc. Seit dieser Mitteilung hat sich der SCSIN über den Fortgang der Crosne–Affaire ausgeschwiegen. Die Ergebnisse der „zusätzlichen Untersuchungen“ EDFs sind in einem vertraulichen Bericht vom 4. Mai 1982 zusammegefaßt. Und sie sind alarmierend. Versuche, bei denen beschleunigtes Altern in der Hitzekammer simuliert wird, haben gezeigt, daß die Isolationskonstante der Kabel rapide um den Faktor 12 bis 60 absackt - je höher die Temperatur, um so schneller. Welche Probleme das mit sich bringen kann, haben die Autoren der Unfallanalyse von Bugey ausgeführt. „Wenn die Isolation an mehreren Stellen defekt ist, besteht die Gefahr, daß Sicherungen durchbrennen oder Verteilerschalter ausklinken. Solche Vorkommnisse sind um so wahrscheinlicher, als die Defekte zahlreich sind (...). Ein solcher Fehler könnte auch die Signale der Notabschaltung des Reaktors stören, zum Beispiel durch das Nichtöffnen der Miniaturrelais, die das Signal Reaktorabschaltung empfangen.“ Ohne zuverlässige Notabschaltung wird das Betreiben eines Atomreaktors vollends zum Russisch–Roulette - besonders in Frankreich, das die höchste Quote an Notabschaltungen aller westlichen Atomstaaten aufzuweisen hat. Der vertrauliche EDF–Bericht gibt als Ursache des Kabelproblems „schlechte Verarbeitung der Mischung des PVC–Isolationsmaterials“ an. Die Absonderung einer der chemischen Komponenten führt zu dem beobachteten Ausfluß an den Kabelenden. Das Tropfen auf Relais und Verbindungen „kann unheilvolle Konsequenzen haben: Zersetzung von bestimmten Kunststoffen, Ablagerungen auf Kontakten. Obwohl diese Auswirkungen im Verhältnis zum Absinken der Isolationsqualität zweitrangig sind, müssen sie für die letztendliche Entscheidung über Auswechseln oder Beibehalten dieser Kabel mit in Rechnung gestellt werden.“ Die Sicherheitsbehörde SCSIN verbot 1982 die Installierung von Crosne–Kabeln. Doch mindestens 1.000 km dieser minderwertigen Steuer– und Kontrollkabel waren bereits verlegt. Betroffen sind die Standorte Bugey, Blayais, Cruas, Dampierre, Tricastin (zusammen 20 Reaktoren mit je 900 MW), vielleicht Saint–Laurent–des– Eaux (zwei 900–MW–Blöcke), und mit Sicherheit einige Forschungsreaktoren. Kurz vor der geplanten Inbetriebnahme der Blöcke zwei und drei von Blayais entschied EDF, die Crosne–Kabel auszuwechseln. Die aufwendige Aktion war im November 1982 beendet und blieb einmalig obwohl die Gewerkschafter der sozialistischen CFDT im September 1982 den „Austausch aller betroffenen Kabel“ gefordert hatten. In Bugey zum Beispiel ist kein einziger Meter Kabel ausgewechselt worden, und eben dort hat der bisher schwerwiegendste Unfall der französischen Leichtwasser– Reaktor–Geschichte im April 1984 stattgefunden. Ein halbes Jahr später, am 10. Oktober 1984, wurde ein ähnlicher Zwischenfall in Dampierre–3 ebenfalls durch einen falsch interpretierten Isolationsfehler ausgelöst. Ende 1984 notierten die Sicherheitsbehörden in ihrem Bulletin SN Probleme des Forschungsreaktors „Orphee“ im Atomforschungszentrum Saclay, 40 km südlich von Paris. Die Gefahr bestünde, daß Isolationsdefekte und Ausfluß „bestimmter Kabel des Steuer– und Kontrollsystems und des Reaktorschutzsystems zu Betriebsschwierigkeiten führt“. Sicherheitskultur? EDF–Ingenieure betonen, die Überwachungssysteme zum Aufspüren von Isolationsfehlern seien inzwischen verbessert worden. Außerdem seien die Alarmsysteme jetzt getrennt installiert. Doch EDF verschiebt das Problem, anstatt es zu lösen. Bereits am Fabrikausgang entsprachen die Kabel nicht den vorgeschriebenen Normen. Auf Grund fehlender Qualifikationskontrollen beim Hersteller und schlampiger Überwachung von EDF und Sicherheitsbehörden ist dies erst spät entdeckt worden. Anschließend hat man versucht, „den minimalen tolerierbaren Widerstandswert zu ermitteln, für jedes einzelne der Systeme, in denen diese Kabel installiert sind“, wie es in der bereits zitierten einzigen Notiz des Bulletins zur Crosne–Affäre heißt. Statt einzuhalten, paßt man sich den Gegebenheiten an. Block vier der Anlage in Blayais ging im Mai 1983 ans Netz, drei Monate früher als Block drei, bei dem die Crosne–Kabel ausgetauscht wurden. Am 15. April 1985 gab es im Block vier einen Zwischenfall nach dem gleichen Muster wie ein Jahr zuvor in Bugey: Störungen in der Stromversorgung nach der Fehlinterpretation einer Kontrolleuchte. Dies passierte, nachdem die Armaturen im Kontrollraum modifiziert worden waren, so daß zwei verschiedene Lämpchen Spannungsabfall und defekte Isolierung signalisieren sollten. Diesmal hatte der diensthabende „Faktor Mensch“ die beiden Leuchten schlicht verwechselt. Seit langem ist aus der Unfallforschung bekannt, daß das ständige Auslösen von Alarmsystemen jeder Art zum Verlust der Signalwirkung führt. Der Bugey– Unfall und einige andere Zwischenfälle wären ohne die Crosne– Kabel nicht passiert. Der Austausch aller installierten Crosne– Kabel würde wohl etliche hundert Millionen Mark kosten. EDF zieht vor, gewisse „Betriebsschwierigkeiten“ zu akzeptieren. Der Mangel an „Sicherheitskultur“ könnte dazu führen, daß im Falle eines schweren Unfalls die gesparte Summe schnell angesichts der Folgen eines GAU verblaßt.
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