: Flucht nach vorn
■ Kohls Abrüstungstaktik
Wie lange kann eine Regierung mit dem Rücken zur Wand stehen, ohne wenigstens einen Ausbruchsversuch zu unternehmen? Für jeden Beobachter der Bonner Kabale der letzten Wochen um Null, Doppel–Null oder Super–Null, in der die Bundesregierung oder genauer gesagt die Union sich immer weiter ins weltpolitische Abseits manövrierte, war klar, daß ein Befreiungsschlag kommen mußte. Daß Kohls Erklärung dann selbst für Teile der Bundesregierung wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, entspricht der Arbeitsweise dieses Kanzlers. Der Zeitpunkt jedoch ist nicht völlig überraschend. Im Verlauf der gestern zuende gegangenen NATO–Tagung in Norwegen mußte Kohls Mann Wörner feststellen, daß er offenbar als einziger weiterhin gegen eine Null– Lösung für Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite polemisiert. Schlimmer noch, US–Verteidigungsminister Weinberger kündigte an, man wolle die atomaren Kurzstreckenwaffen unter 500 km Reichweite aufstocken, also just die Waffen, die nach CDU–Meinung vor allem dazu dienen, Deutsche zu töten. In dieser Situation, die beiden Landtagswahlen am Sonntag vor Augen, entschieden sich die CDU–Strategen für die Flucht nach vorn. Statt weiterhin nein nein zu schreien, nahm Kohl sich die Mahnungen seines Generalsekretärs zu Herzen und verkündete nun: Wir wollen viel mehr. Ohne sich in der bislang heiß diskutierten Frage der kürzeren Mittelstreckenraketen wirklich festzulegen, bringt Kohl nun die Kurzstreckenraketen und Gefechtsfeldwaffen mit ins Spiel, in der Hoffnung, die Mehrheitsmeinung innerhalb der NATO noch einmal zu erschüttern. Die Chance, damit durchzukommen, erscheint allerdings gering. Vor allem die Amerikaner werden sich von Kohls Befreiungsschlag nicht besonders begeistert zeigen. Jürgen Gottschlich
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