: Die Invasion aus den Turnvereinen
■ Für eine Woche turnen 120.000 Besucher anläßlich des Turnfestes in Berlin durch die City / Nicht nur die Turnhallen, auch Kudamm, Busse und U–Bahnen sind überfüllt / Die „größte Gratulantenschaft als Geschenk“ für Berlins 750–Jahr–Feier
Aus Berlin Martin Wollenberg
Tatort Berlin, Bahnhof Zoo amSonntag vormittag. Auf dem viergleisigen Weltstadtbahnhof trifft Sonderzug um Sonderzug ein. Heraus quellen junge lachende Gestalten, viele in bunten Trainingsanzügen, schieben sich die Treppe in die Bahnhofshalle herunter und drängen sich durch die engen Schwingtüren auf den Hardenbergplatz. Kein Zweifel: Es ist Turnfest in Berlin! Draußen auf dem Platz verschnaufen die sportiven Neuankömmlinge erstmal und setzen sich auf ihr Gepäck. Das sind entweder unförmige übermannshohe Gestellrucksäcke oder der gute Lederkoffer, Fassungsvermögen „Maximus“. In jedem Fall scheint die Angst verbreitet zu sein, daß der rings um die Mauerstadt befindliche Russe die Gelegenheit beim Schopfe packt und die Falle gerade dann zuschnappen läßt, wenn 12o ooo Menschen mehr als sonst drinnen sitzen. Und bei einer Neuauflage der Blockade sollte man zumindest genügend Unterwäsche vorrätig haben. Für den Abtransport der Hardenbergplatz–Sitzer haben die Berliner Verkehrsbetriebe einen Teil der städtischen Doppeldecker zur Verfügung gestellt. Alles ist bestens organisiert: Welcher Bus mit welcher Nummer mit welchen Leuten zu welcher zum Schlafquartier umfunktionierten Schule fährt. Damit sich auch alle daran halten, beschallt das Transportunternehmen in polizeilicher Manier den Bahnhofsvorplatz über Megaphon: „Achtung, Achtung, hier spricht die BVG. Wir heißen Sie als Teilnehmer des Turnfestes in der alten Reichshauptstadt herzlich willkommen.“ Warum haben die zahlreichen Ordner eigentlich keine Pickelhaube auf, wundert sich der Betrachter und beobachtet derweil die Abfahrt der vollen Busse mit entsprechend der BVG– Weisung „hinten im Wagen“ gelagertem Gepäck. Am Nachmittag ist dann der erste obligatorische Kudamm–Bummel angesagt. In dicken Trauben schieben sich die jeweils kompletten SCs und SVs über den Bürgersteig und fallen kollektiv, je nach Geschmack, in die bereits geöffnete Teenie– Disco oder ins „Burger King“ ein. Uniform wie das Verhalten ist auch das Aussehen der Invasoren. Jeans, oft mit Bügelfalte, Sweat– Shirt oder Vereinsjacke und vor allem ordentliche Scheitel. Die Inbesitznahme des Kudamms durch die Turnfestler ist für touristenerprobte Berliner jedoch nicht tragisch. Auf den Schaufensterbummel während der Turnfest–Woche zu verzich ten, mag für die verbliebenen Einheimischen noch zumutbar sein. Die tägliche U–Bahnfahrt zur Arbeit ist dagegen unaufschiebbar. Und hier ist man den schwäbelnden und bayernden Besuchern unrettbar ausgeliefert. Vor jeder Station springen sie auf, vergleichen die Namen auf den Übersichtsplänen mit den Schildern auf den Bahnhöfen und diskutieren lautstark durch den ganzen Wagen Fahrziel und Umsteigestrategie. „Sie sind die größte Gratulantenschar. Ein schöneres Geschenk als ihre Reise nach Berlin hätten Sie Berlin nicht machen können“, jubilierte Bundespräsident von Weizäcker. Aber der muß ja nicht U– Bahn fahren, und in seinen Dienst wagen haben sich noch nicht sieben verschwitzte Zehnkämpfer gleichzeitig gequetscht. Sonntag abend war für drei Stunden der gewohnte Zustand im Stadtzentrum fast wiederhergestellt. Es war gelungen, 80.000 Turner ins Olympiastadion zu pferchen und weitere 20.000 auf eine große Wiese zu locken, wo sie die Eröffnungsfeierlichkeiten auf einer riesigen, allerdings nicht funktionierenden Leinwand verfolgen sollten. Im Olympiastadion selbst war derweil der Teufel los: Gymnastiktrupps, Fahnenträger, Funkenmariechen und Tanzbären marschierten auf, auf den Rängen wurde geschunkelt und in Form der „Mexico–Welle Ola“ abwechselnd aufgestanden und sich wieder gesetzt. Mit aufmunternden, salbungsvollen und mahnenden Ansprachen beteiligten sich auch Politiker an der Turnfesteröffnung. Mit Recht, denn sie sind die eigentlichen Wohltäter der Veranstaltung - haben sie doch das Nachtbackverbot aufgehoben, damit alle Turner morgens zwei abgezählte Schrippen erhalten. Bürgermeister Eberhard Diepgen hätte gerne noch mehr Schrippen verteilt und auch die Turner, „die durch Stacheldraht und Mauer gehindert sind, heute hier zu sein“ im Stadion aufziehen lassen. Tiefgründiges kam auch von Ämterhäufer Walter Wallmann. Erst Bürgermeister in Frankfurt, dann Umweltminister und jetzt Ministerpräsident von Hessen trat er gestern als Präsident des deutschen Turnerbundes auf und verkündete: „Demokratie ist ohne Turnen nicht denkbar.“ Na, dann turnt mal schön.
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