Volkszählung und kein Ende

■ Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird die Abwicklung der Volkszählung weiter verzögern

Seit knapp drei Wochen sind die Zähler nun unterwegs und keiner blickt mehr durch. Ist der Boykott nun ein Erfolg oder bleiben die Verweigererzahlen nicht doch weit hinter den Erwartungen zurück? Warum gibt das Bundesinnenministerium seinerseits keine Zahlen über die ausgefüllten Fragebogen bekannt? Die einfachste Erklärung beider Seiten ist, es sei für sinnvolle Aussagen noch viel zu früh. Nachdem die Zählung bis jetzt schon weit hinter dem Zeitrahmen hinterherhinkt, wird der Beschluß aus Karlsrhe die Prozedur noch einmal verlängern.

Einen kurzen Prozeß wollten die staatlichen Erhebungsstellen für die Volkszählung 87 mit Boykotteuren machen. Das wurde schon im Volkszählungsgesetz festgelegt, welches Buß– oder Zwangsgeldern ausdrücklich keine aufschiebende Wirkung einräumt, wenn der Zähl– und Zahl–Unwillige die gerichtlichen Instanzen anruft. Bisher haben die Gerichte mitgespielt und eine aufschiebende Wirkung bei Widersprüchen gegen die Heranziehungsbescheide nicht genehmigt. Einem Flugblattverteiler aus dem Münsterland wurde im Gerichtsurteil sogar ausdrücklich vorgehalten, der Weg durch die gerichtlichen Instanzen sei ja genau die hinlänglich bekannte „Verzögerungstaktik“ der Boykotteure. Ähnlich kurz und bündig entschied das Verwaltungsgericht Oldenburg über insgesamt acht Anträge von Nordener Bürgern, die am 25.Mai gleichzeitig Widerspruch bei den Erhebungsstellen eingelegt und Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung beim Gericht gestellt hatten. Die detailliert und individuell unterschiedlich begründeten Anträge wurden noch am Tage des Posteingangs vom Oldenburger Verwaltungsgericht abgelehnt. Allen Antragstellern gingen Computer–verfaßte Urteile mit gleichlautenden Begründungen zu. Auf die geltend gemachten Einwände wurde dabei nicht eingegangen. Einer der Antragsteller, Peter Ganser aus Norden, hat gegen dieses Schnellverfahren postwendend Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg eingelegt. Eine Entscheidung des OVG steht noch aus. Dieser Weg durch die Instanzen verwehrt den Erhebungsstellen nach dem Wortlaut des Volkszählungsgesetzes nicht, ihre Buß– oder Zwangsgelder in der Zwischenzeit schon zu vollstrecken. Das war bisher der entscheidende Hebel, um die gefürchteten „Verzögerer“ der Volkszählung einzuschüchtern und ihnen den gerichtlichen Beschwerde– und Klageweg zu vermiesen. Genau hierauf aber bezieht sich der Passus in der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichtes von gestern, wo es heißt, die Verwaltungsbehörden hätten zu berücksichtigen, daß der gerichtliche Rechtsschutz illusorisch sei, wenn die Behörde „irreparable Maßnahmen“ vornähmen, bevor die Gerichte deren Rechtmäßigkeit geprüft hätten. Im Fall Peter Ganser bedeutet das, daß das Bundesverfassungsgericht Einwände gegen eine Vollstreckung eines eventuellen Bußgeldbescheides hätte, solange in Lüneburg noch verhandelt wird, bzw. eine Verfassungsklage anhängig ist. Interessant findet Peter Ganser in der Urteilsbegründung den Hinweis auf die „irreparablen Maßnahmen“, die nach Karlsruher Auffassung vorliegen könnten, wenn die Behörden ihre Bürger vorschnell zur Auskunft zwingen oder zur Kasse bitten. Das sei ein „Wink mit dem Zaunpfahl“ durch das oberste Gericht. Vielleicht, so hofft Ganser, kommt das alles verändernde Grundsatzurteil aus Karlsruhe ja doch noch. Zwar dürfte die Anonymität der erhobenen Daten von Gerichts wegen nach der Neuformulierung des Volkszählungsgesetzes wohl kaum noch infragegestellt werden. Die irreparablen Maßnahmen können aber z.B. dann eintreten, wenn Gerichte die geäußerte Vermutung bestätigen würden, daß die anonymen Datensätze re– identifizierbar sind, d.h. daß die Kombination der anonymen Daten doch zu der ausgefragten Person zurückführen. Eine Reihe von Verfahren sind zu dieser Frage anhängig. Auch Peter Ganser hat seinen Antrag an das Verwaltungsgericht Lüneburg unter anderem damit begründet. Das Verwaltungsgericht ersparte es sich in seiner Einheitsbegründung, auf diesen Einwand einzugehen und verweist stattdessen darauf, daß das Volkszählungsgesetz 87 unter Berücksichtigung der Rechtssprechung des Verfassungsgerichtes formuliert sei und deshalb „in besonderem Maße die Vermutung seiner Verfassungsmäßigkeit“ in sich trage. Sollte Gansers Verfahren bis zum Verfassungsgericht vordringen, könnte es sich genau die Instanz, auf die sich das Verwaltungsgericht so pauschal beruft, noch einmal anders überlegen. Diese Möglichkeit legt die Urteilsbegründung des gestrigen Verfassungsgerichtsbeschlusses nahe. In jedem Fall aber dürfte Peter Ganser davor sicher sein, daß die Zähl–Behörden den Kassierer schicken, bevor die Gericht gesprochen haben. Imma Harms