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„Der kalte Krieg der Radioaktivität“

■ Der amerikanische Strahlenforscher Ernest Sternglass über die gravierenden Folgen radioaktiver Niedrigstrahlung, über Tschernobyl, Harrisburg und die Atomtests der USA / „Wie will man ganz Europa sagen, ihr sollt keine Kartoffeln mehr essen?“ / Millionen Tote durch Atomtests und den Fallout aus der Ukraine?

taz: Sie haben Untersuchungen gemacht über radioaktive Abwindfahnen nach Atomtests. Sie haben die Luftbewegungen aus dem Testgebiet verfolgt und den daraus resultierenden Fallout. Können Sie unseren Lesern darüber berichten? Sternglass: Die Militärs waren nach den ersten Tests selbst sehr erstaunt. Wenn sie z.B. eine Bombe in Nevada detoniert haben, fand sich ein Großteil des Fallouts plötzlich in 2.000 Kilometern Entfernung. Es kommt eben sehr auf die Niederschläge an, auf Schnee und Regen. Bei den großen Bomben zieht der Fallout oft jahrelang um die Welt herum. Deshalb ist die ganze Welt betroffen, egal wo die Bombe gezündet wurde. Gilt dies auch für die heutigen unterirdischen Tests? Leider betrifft dies auch unterirdische Tests, die sehr häufig an die Erdoberfläche gelangen. Sie ventilieren, sagt man. Bei etwa fünf bis zehn von 100 unterirdischen Tests hat man einen Fallout über die ganze Welt. Im Dezember 1970 ist eine Bombe, die 300 Meter unter der Erde gezündet wurde, durchgebrochen und 3.000 Meter in die Höhe gegangen. Die radioaktive Wolke ist über die Vereinigten Staaten gezogen, über Kanada und dann rund um die ganze Welt. Man konnte das an den Messungen der Milch sehen. Ich habe gerade jetzt Gelegenheit gehabt, die Statistiken zu diesem Unfall einzusehen. Die Konsequenzen dieses Unfalls konnte man leider auch an der atlantischen Küste, in Maine, in Boston ablesen. Zwei, drei Jahre lang sind dort die Krankheiten, besonders bei den Neugeborenen, nach oben gegangen. Welche Krankheiten waren bei den Neugeborenen zu beobachten? Das erste, was wir immer sehen, ist die monatliche Zahl der Kinder, die sterben. Bei den Kleinstkindern unter einem Jahr sieht man die Auswirkungen der Bombentests sofort. Es gibt in den USA monatliche Berichte der Regierung (über Geburten und Kindersterblichkeit - die Red.), da sieht man sofort, was los ist. Die ersten Bomben wurden 1951 in Nevada gezündet, und man hat eigentlich von Anfang an gemessen und biologische Effekte registriert. Wurden diese Untersuchungen öffentlich gemacht? In den ersten sechs Jahren wurde alles geheimgehalten. Ende der 50er Jahre wurden dann überall in den USA Schutzbunker gebaut. Das war eine große Sache damals. In diesem Zusammenhang entschied sich dann der Kongreß, einige Daten zu veröffentlichen. Dies geschah, damit die Leute Informationen hatten und ihren Bunker entsprechend bauen konnten. Wie kommen Sie heute an die Daten ran? In Amerika ist das ganz einfach. Ich kann an der Universität die monatlichen und jährlichen Berichte über Geburten und Todesfälle sehr leicht einsehen. Viel schwieriger ist es, die Daten über den Fallout zu erhalten. Das hat viel länger gedauert, bis man da ran kam. Erst Gofman und Templin erhielten mit ihrer Wissenschaftlergruppe Zugang. Sie haben eine Bombe nach der anderen verfolgt und rekonstruiert in ihrem Fallout. Damals wollte man ja einen neuen Panama–Kanal bauen, und es ging um die Frage, ob man dies mit Hilfe einer Bombe tun kann. Deshalb wurden viele Untersuchungen gemacht, um zu wissen, ob man das überleben kann, und wieweit man die Leute evakuieren muß. Herr Sternglass, wie schätzen Sie die Spätfolgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl ein? Es gibt Schätzungen von weltweit 500.000 Krebstoten, die der US– Wissenschaftler Gofman prophezeit, und Schätzungen von maximal 1.000 oder 2.000 Krebstoten von Regierungsseite. Das wird alles unterschätzt. Das haben wir immer unterschätzt. Ich glaube, wir werden sehen, daß nach Tschernobyl so viele Menschen sterben wie im ganzen Zweiten Weltkrieg. Das wären 50 Millionen Tote. Das wäre ungeheuerlich. Ja. Sie werden in den nächsten 40, 50 Jahren sterben, und sie haben schon angefangen, zu sterben. Das weiß ich, weil ich die ersten Toten in den Statistiken „gesehen“ habe. Deshalb kann ich auch sagen, daß wir Millionen Tote haben werden. Die Zahlen der Opfer werden wachsen. Sie werden genauso wachsen wie die Opfer nach den Atombombentests in den 50er Jahre. Wir haben das alles unterschätzt. Während der letzten Wochen hatte ich Gelegenheit, mir die Zahlen von Harrisburg anzusehen, die jetzt schwarz auf weiß in gedruckten Büchern vorliegen. Das ist die Vitalitäts–Statistik der USA. Man kann die Kinder, die Alten und Kranken zählen. Das ist alles veröffentlicht, Staat für Staat, Region für Region. Dr. J. Gould hat diese Daten vorgelegt, in allen Einzelheiten. Man sieht daran, daß im ersten Jahr nach dem Harrisburg–Unfall, daß in diesem einen Jahr die Zahl der Todesfälle um 76.000 Menschen zugenommen hat und im zweiten und dritten Jahr beinahe nochmal so viel. Vielleicht sind in Harrisburg so viele Menschen gestorben wie in Hiroshima und Nagasaki zusammen. Das ist für mich kaum zu glauben. Da müßte doch ein Aufschrei kommen. Wieso? Die Betroffenen sind doch sanft gestorben. Harrisburg ist wie eine tote Stadt, weil man das Gefühl hat, daß jeder weiß, daß hier irgendwas nicht stimmt. Die Leute arbeiten, und alles scheint in Ordnung, aber jeder hat Freunde und Bekannte verloren. Kinder kriegen Krebs, in der Lebensmitte sterben plötzlich viele Menschen. Das ist alles vollständig belegt. Die Alten, die schon krank sind, sind natürlich die ersten, die sterben. Viele sterben an Lungenentzündung. Wir haben auch eine starke Erhöhung an Blutvergiftungen. Jetzt sehen wir, je genauer wir uns die Auswirkungen von Harrisburg ansehen, auch eine Erhöhung von Infektionen und daß die Immunabwehr geschwächt ist. Das hatten wir total unterschätzt. Ich konnte das selbst kaum glauben. Aber die Zahlen sind eindeutig. (...) Aus Polen ist über den Rückgang der Geburtenrate im ersten Jahr nach Tschernobyl um meh rere hunderttausend Geburten berichtet worden... Dasselbe hatten wir während der Zeit der oberirdischen Atomtests in den USA gesehen. Da waren plötzlich die Geburten nicht mehr da, und es sind viele Kinder verloren worden und gestorben. Ich habe mal berechnet, daß wir, wenn wir in den USA 20mal mehr Bomben detoniert hätten, daß dann überhaupt keine Kinder mehr auf die Welt gekommen wären. Das Kind im Mutterleib ist tausendmal, vielleicht zehntausendmal so empfindlich gegenüber der Radioaktivität wie ein Erwachsener. Nochmal zu Tschernobyl: Wenn Sie solch schreckliche Auswirkungen befürchten mit vielleicht Millionen von Toten, dann stellt sich die Frage, wie wäre das noch zu verhindern. Leider will das niemand verhindern. Es gibt viele Dinge, die man tun könnte, aber man braucht viel Geld dafür. Können Sie ein Beispiel nennen? Die Leute sollten z.B. keine Kartoffeln mehr essen. Aber wie will man ganz Europa sagen, ihr sollt keine Kartoffeln mehr essen. Ihr sollt kein Kalbfleisch mehr essen. Ihr sollt kein Rindfleisch essen. Das ist doch unmöglich. Es ist für die Menschen unbegreifbar, daß sie ihre eigenen Produkte nicht mehr essen können. Aber man kann schon jetzt was tun. Die beste Diät ist die japanische: also Reis und Fische aus dem Ozean und Tang. Die Fische sind doch ebenfalls stark verseucht. Nein, das muß man den Leuten erklären. Fische in den Seen und Flüssen, also in salzarmen Gewässern, nehmen das Strontium 90 tausendmal stärker auf als ein Meeresfisch. Wenn wir das den Leuten erklären, können wir Tausende und Millionen von Toten vermeiden. Wenn Natrium und Kalzium vorhanden sind wie im Meer, nehmen die Fische das auf, und sie nehmen viel weniger Strontium 90 auf. Warum insistieren Sie so auf Strontium 90. In der Bundesrepublik wird sehr viel gemessen. Aber es wird immer nur Cäsium gemessen. Strontium 90 ist das Nuklid, das in den Knochen der Menschen lebenslang vorhanden bleibt. Das Cäsium geht in ein paar Wochen durch den Körper durch, deshalb hat Strontium eine viel größere Auswirkung auf die Gesundheit als Cäsium oder Tritium. Das weiß man natürlich, aber man sagt es nicht. Und deshalb müssen so viele Menschen sterben, wie in einem Krieg. Mein Vater ist 1914 an die Front marschiert, und er glaubte, bald wieder zurück zu sein. Es war ein Fehler, und an dem gleichen Fehler sind Millionen gestorben. An dem kalten Krieg der Radioaktivität sterben ebenfalls Millionen und Millionen. Sie sterben langsam, sie sterben an Lungenentzündungen und Blutvergiftungen, an Krebs und Herzkrankheiten. Der Krebs ist dabei nicht das wichtigste. Das wichtigste ist, daß die Immunabwehr, daß die Abwehrkräfte, ähnlich wie bei der AIDS–Epidemie, gegen Viren und Bakterien geschwächt werden. Die Atomwaffen–Tests sind ein Krieg, in dem die Amerikaner gegen die Russen kämpfen. Und in diesem Krieg sind - Rosalie Bertell (eine kanadische Strahlenforscherin, die Red.) hat darüber gesprochen - nach ihrer Schätzung bisher 16 Millionen Menschen gestorben. Und bis zum Ende dieses Jahrhunderts werden es 30 Millionen Menschen sein. Es gibt die natürliche radioaktive Strahlung, mit der die Menschen immer gelebt haben. Welchen Einfluß hat diese natürliche Strahlung auf die Menschen? In England ist die natürliche Strahlung von Kilometer zu Kilometer ausgemessen worden, und man hat herausgefunden, daß 75 Prozent aller Kinderleukämien damit zusammenhängen. Die Strahlung vom Boden, von den Wänden oder vom Himmel hat einen viel größeren Einfluß, als wir das jemals geglaubt haben. Diese Strahlung hat es natürlich schon immer gegeben. Nur jetzt haben wir noch neue Elemente zu dieser natürlichen Strahlung dazugetan. Es geht ja nicht nur um Millirem und Sievert. Ein Millirem ist eben nicht gleich ein Millirem. Ein Millirem aus einer Flasche Milch ist etwas anderes als aus einer Röntgenmaschine, weil in der Flasche Milch Strontium 90 enthalten ist und Jod 131 und vieles andere. Das ist eben nicht dasselbe wie die natürlichen Strahlen aus der Umwelt. Und das haben wir nicht gewußt. Und später wollte man die Wissenschaft nicht mehr korrigieren, weil man ja schon angefangen hatte, riesige Atomkraftwerke zu bauen und man Milliarden Dollars verdienen wollte. Welche Untersuchungen wären jetzt notwendig, um die Auswirkungen von Tschernobyl bis hin zu den Todesfällen offenzulegen und nachvollziehbar zu machen? Das passiert schon. Überall. In jedem Staat werden ja die Zahlen über Geburten und Todesfälle gesammelt. Jahre später wird man sich das ansehen. Der Tschernobyl–Unfall war am 26. April. Und in diesem Zeitraum von Mai bis November sind in den USA im ersten Lebensjahr 1.400 Kinder mehr gestorben. Und die totale Sterblichkeit hat sich um 34.000 Menschen erhöht. Die Todesrate unter den Kindern geht normalerweise jedes Jahr um vier Prozent zurück. Und jetzt ist diese Todesrate eben nicht zurückgegangen. Das ist wie zur Zeit der oberirdischen Bombentests, als die Zahlen ebenfalls nicht heruntergegangen sind. Läßt sich denn der Weg des Fallouts von Tschernobyl in den USA nachvollziehen? Ich habe die metereologischen Daten und alles gehabt. Ich habe im Radio und im Fernsehen gewarnt, daß die Frauen nicht die Milch trinken sollen. Aber unsere Regierung will Star–Wars, sie will Raketen und Atomkraftwerke, und deshalb haben sie die Leute nicht gewarnt. Und deshalb sind die Kinder gestorben. Diese Zahlen von 1.400 Kindern, die gestorben sind, das läßt sich doch schwer nachweisen, daß dies eine direkte Auswirkung von Tschernobyl ist. Man sieht doch seit Hunderten von Jahren, wie die Zahl der Kinder, die im ersten Jahr nach der Geburt sterben, wie diese Zahl jedes Jahr zwischen drei bis vier Prozent abnimmt. Nur während der Kriege und während der Epidemien war das anders. Und wir sind jetzt in einem Krieg, in einer Epidemie. Wenn man sich die Statistik ansieht, ist das ganz eindeutig. Man sieht sogar, in welchen Staaten die Kinder gestorben sind. Das sind diejenigen Staaten, wo der Tschernobyl–Fallout am höchsten war. An der Westküste, in Alaska und Hawaii, in den Bergen von New–England. In Amerika war der Fallout z.T. stärker als in Norddeutschland oder in Spanien. Sie beschäftigen sich schon seit 20 Jahren mit radioaktiver Niedrigstrahlung und sind eine Art Pionier auf diesem Gebiet. Wenn Sie sich jetzt die Forschung ansehen, was hat sich seitdem getan, wo mußten Sie sich korrigieren? Ich habe die Auswirkungen der Strahlung immer unterschätzt. Ich habe in diesen 20 Jahren sehr viel dazugelernt. Man hat jahrelang nicht glauben wollen, daß die Auswirkungen der Atombomben so gefährlich sind. Wir wollten, daß etwas Gutes aus den Bomben herauskommt. Deshalb wollte man ja auch die Kernkraftwerke bauen, damit wir Elektrizität zum Nulltarif bekommen. Das wollte man nach Hiroshima. Die meisten wollten der Menschheit ja etwas Gutes tun. Das Schreckliche ist nur, daß sich das ins Gegenteil verkehrt hat. Interview: Manfred Kriener/Bernhard Mogge

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