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Neue Schlachten am „Anti–Tränengas–Tag“

■ Am Donnerstag wurde ein neuer Höhepunkt bei den Straßenkämpfen in Südkorea erreicht / Studenten umzingelten mehrfach Polizisten und entwaffneten 80 Hüter der Regierungsmacht / Großdemonstrationen unabhängiger Gruppen

Seoul (wps) - „Zerstört die Diktatur, ändert die Verfassung“ riefen am Donnerstag mehrere zehntausend Studenten, die sich am fünften hintereinander folgenden Tag in der Innenstadt von Seoul wilde Gefechte mit der Polizei lieferten. Ungeachtet dessen, daß eher bürgerliche Oppositionsgruppen den Donnerstag zum „Anti–Tränengas–Tag“ erklärt und an die Polizei appelliert hatten, die ätzende Chemikalie nicht mehr anzuwenden, hingen vorgestern wiederum Schwaden von Reizgasen jeder Sorte über der südkoreanischen Hauptstadt. Während die erfahrenen Straßenkämpfer mit erstaunlichem Durchhaltevermögen die Attacken der Polizei konterten, versuchten Bürger und Geschäftsleute, sich mit dicken Schichten von Zahnpasta und über das Gesicht gezogener Plastikfolie vor den Auswirkungen der Gaskanister zu schützen und ihren Alltagsgeschäften nachzugehen. Wann immer die kilometerweit auf den Haupteinkaufsstraßen ausgefochtenen Kämpfe eine Pause ließen, bahnten sich Busse und Verkehrsmittel einen Weg durch das Schlachtfeld. Trotz des massiven Einsatzes von 20.000 Polizisten verzeichneten die Studenten am Donnerstag erstaunliche Platzgewinne. Auf dem Platz vor der Bank of Korea im Zentrum Seouls gelang es einer Studentengruppe, 80 Polizisten zu überwältigen und das Gebiet kurzzeitig abzuriegeln. Die Ordnungshüter wurden entwaffnet, und bald loderten Uniformen, Gasmasken und Schilde auf einem eilig errichteten Scheiterhaufen; woraufhin die entblößten Einsatzkräfte teils auf Knien um Gnade flehten, teils in einen nahegelegenen Springbrunnen Zuflucht vor der zu erwartenden Prügelstrafe suchten. Schließlich beschlossen die Studentenführer aber, es sei doch besser, die Kollegen vom anderen Lager mit dem Schrecken davonkommen zu lassen und führten die Geschundenen durch die Reihen der gröhlenden Demonstranten zurück. Ähnliche Szenen spielten sich in der Nähe des Hauptbahnhofs ab, wo eine weitere Polizeieinheit umzingelt, aber ebenfalls nach einigem Hin und Her freigelassen wurde. Tausende von Studenten, die in einem unterirdi schen Einkaufszentrum eingeschlossen waren, machten auch dort durch laute Proteste ihrem Unmut Luft. Andere versuchten zur Hauptverkehrszeit, ein Sit–In auf der Hauptstraße durchzuführen, wurden jedoch bald von Tränengasschwaden vertrieben. Insgesamt waren am Donnerstag in Seoul und mehreren Provinzstädten mindestens 140.000 Demonstranten auf der Straße. Sammelpunkt der nichtstudentischen Opposition waren zwei Großkundgebungen vor Kirchen in der Innenstadt, auf denen gegen den Einsatz von Pfeffergas protestiert werden sollte, einer pulverigen Substanz, die vorübergehend zu Erblindung führt und starke Verätzungen auf der Haut hinter läßt. Von der Polizei wird das Teufelszeug als harmlose Maßnahme zur Selbstverteidigung gerechtfertigt. Trotz eines Verbots sammelten sich nachmittags 3.000 Frauen vom koreanischen nationalen Frauenrat in der Nähe des East Gate Marktes vor der Presbyterianischen Kirche, wo sie jedoch prompt mit einer massiven Tränengasattacke der Polizei empfangen wurden. Weitere 10.000 Menschen hatten sich vor der schon seit Tagen im Zentrum der Auseinandersetzungen stehenden Myongdong–Kathedrale versammelt. Gegen 18 Uhr starteten mehrere Hundert Taxifahrer dann ein kollektives Hupkonzert und verbarrikadierten die Straße, was un zählige andere, ebenfalls im Berufsverkehr eingeschlossene autofahrer veranlaßte, sich anzuschließen. Universitäten geschlossen Nachdem sich am Donnerstag auch erstmals einige Professoren den Studenten anschlossen und erklärten, die Aktionen seien gerechtfertigt, wurden am Freitag rund 50 Universitäten unter Verzicht auf die Semesterschlußprüfungen vorzeitig geschlossen, offenbar in der Hoffnung, daß dies die Proteste dämpfen werde. Der konservative Oppositionsführer Kim Young Sam lehnte das Angebot des designierten Präsidentennachfolgers Roh Tae Woo zu Gesprächen ab, da dieser keine verantwortliche Position habe. Der Wahlmodus für Roh wird von der Opposition abgelehnt. Dagegen betonte Kim, die Aufnahme von Gesprächen mit der Regierung hänge generell von der Erfüllung einer Reihe von Bedingungen ab, unter anderem der Freilassung der in letzter Zeit Verhafteten. Unterdessen haben in Washington der demokratische Senator Kennedy und Parteikollegen wirtschaftliche Sanktionen gegen Südkorea gefordert. Damit solle die Regierung in Seoul unter Druck gesetzt werden, die Demokratie in dem Land auf eine breitere Grundlage zu stellen und die Menschenrechte zu schützen.

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