Keine Peoples Power in Südkorea

■ Trotz der in Südkorea immer stärker werdenden „Macht der Straße“ ist eine „philippinische“ Lösung der Krise unwahrscheinlich: Gesellschaftspolitische Vorstellungen des lockeren Aktionsbündnisses sind zu widersprüchlich / Kim Dae Jung wird zur Schlüsselfigur

Von Dirk Messner

Berlin (taz) - Hunderttausende auf den Straßen, eine hilflose Regierung: Ein Vergleich zwischen Südkorea und der Situation auf den Philippinen im Februar 1986 kurz vor Marcos Sturz scheint sich aufzudrängen. Doch eine nähere Betrachtung zeigt: Es gibt fundamentale Unterschiede zwischen beiden Ländern. Für Südkorea ist eine von den USA gesteuerte „Aquinolösung“ kaum möglich. Der Hauptgrund dafür ist, daß in Südkorea kein mit den politischen und persönlichen Vorzügen Corazon Aquinos vergleichbarer „neuer Mann“ - Frauen spielen in Auseinandersetzungen auf Spitzenebene keine Rolle - in Sicht ist, der zugleich die Interessen der USA wahren und das Vertrauen der radikalisierten Massen auf der Straße gewinnen könnte. Der konservative Chef der oppositionellen Demokratischen Wiedervereinigungspartei, Kim Young Sam, wäre sicher ein Politiker, mit dem sich die US–Administration abfinden könnte. Die militanten Studenten und auch radikale Arbeiter aus der illegalen Gewerkschaftsbewegung dagegen würden niemals eine von die ser Gallionsfigur der Konservativen geführte Regierung akzeptieren, wenn auch nur der geringste Verdacht bestünde, diese sei von den USA eingesetzt oder auch nur bevorzugt worden. Die Supermacht ist bei beiden Kräften völlig diskreditiert, seit die unter der Befehslgewalt eines US–Generals stehende südkoreanische Armee 1980 den Volksaufstand in Kwangju blutig niederschlagen ließ. Seit dieser Zeit orientieren sich die organisierten Studenten nicht mehr an bürgerlichen Demokratiemodellen, sondern an kritischen marxistischen Theorien. Ihr Ziel ist die sofortige Zerschlagung der Diktatur, Kompromisse mit dem Regime sind undenkbar. Kim Young Sam aber steht genau für diese Kompromißstrategie. Für die radikale Opposition ist er die Personifizierung der etablierten aufstrebenden Mittelklasse - jener 15 vorbildlichen Schwellenlandes eingetragen haben. Diese Schichten, und mit ihnen Kim Young Sam, sympathisieren zwar vielleicht mit einer politischen Liberalisierung, sind aber kaum für ökonomische Reformen und soziale Verbesserungen zu gewin nen, die den Verlierern des Wirtschaftswunders zugute kämen. Dae Jung, der bekanntere und auch liberalere der beiden Kims, aufgrund seines jahrzehntelangen Kampfes gegen die Diktatur als Führer einer Übergangsregierung auch die Studenten hinter sich bringen. Anders als Kim Young Sam gilt er als glaubwürdig. Dafür ist er sicher nicht der Traumkandidat der USA, hat er doch immer wieder den Abzug der amerikanischen Truppen und Atomwaffen aus Südkorea gefordert. Im Gegensatz zu früher ist der Militärapparat kein homogener Block mehr. Ende Mai tauchten in Seoul plötzlich Putschgerüchte auf. Als Urheber einer möglichen Revolte wurde Geheimdienstchef Chang Se Dong gehandelt. Am 28. Mai soll sich dieser an die Amerikaner gewandt und um Unterstützung für eine militärische Lösung der Krise nachgesucht haben. Doch offenbar wurde das Ansinnen aus Furcht vor einer weiteren Eskalation von Washington zurückgewiesen; Chang ist seitdem spurlos verschwunden. Gegen die Erfolgsaussichten eines Putsches spricht außerdem, daß Teile der Militärregierung offenbar nichts dagegen haben, den Kopf von Chun zu opfern. Zahlreiche informelle Gespräche deuten auf die Bereitschaft zu einem faulen Kompromiß mit der konservativen Opposition hin. Eine solche Entwicklung, also zeitraubende Debatten und langwierige Verhandlungen mit allen nicht–US– feindlichen bürgerlichen Oppositionellen über Demokratisierungsmaßnahmen ohne radikale Stukturreformen dürfte auch dem amerikanischen Sonderbeauftragten Sigur vorschweben. Das südkoreanische Bürgertum, das sich in den letzten Tagen ebenfalls an den Demonstrationen beteiligte war bislang gespalten. Intellektuelle aus den Universitäten und Angestellte aus dem aufgeblähten Staatsapparat lehnten das Militärregime strikt ab. Kaufleute und Kleinunternehmer dagegen haben in der Vergangenheit vom ökonomischen Aufschwung profitiert. Sie waren die soziale Basis des Militärregimes, sehen aber mit zunehmender Repression ihre Felle davonschwimmen. Zwar hat die Opposition in den letzten Wochen zu einem Aktionsbündnis zusammengefunden, sie bleibt aber in der Sache zerstritten. Die Ende Mai gegründete „Koalition für eine Demokratische Verfassung“, die von radikalen Studenten bis zu konservativen Gruppierungen reicht, ist äußerst fragil und wahrscheinlich nur eine Allianz auf Zeit. Einerseits sind sich alle Teile der Opposition in der Forderung nach einer Direktwahl des Präsidenten und damit dem Ende der Militärdiktatur einig. Andererseits fordern Studenten und Arbeiter aber eine Beendigung des militärischen Bündnisses mit den USA, grundlegende ökonomische wie soziale Reformen und langfristig eine nichtkapitalistische Entwicklungsstrategie. Allein die Tendenz der Forderungen ist für die Konservativen unannehmbar. Dadurch kann die Illusion einer vereinten Volksmacht gegen die Diktatur, also eine Kopie der philippinischen Peoples Power, gar nicht erst aufkommen. Der große Unbekannte in dieser Offenen Partie ist Kim Dae Jung. Wenn er, wie gestern anklang, die Opposition zur Mäßigung aufruft, um mit Kim Young Sam und der Regierung nach Kompromissen zu suchen, wäre die Chance auf echte Demokratisierung vertan. Unterstützt er die Forderung der Straße nach sofortigem Sturz der Diktatur, wäre den Konservativen die Möglichkeit verbaut, halbherzige Kompromisse einzugehen.