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Tour de Frappe in Berlin

■ Der Start der 74. Tour de France bringt den städtischen Autoverkehr ins Wanken und Politiker auf Trab

Wer noch vor drei Jahren behauptet hätte, der autobahnbesessene und auspuffgassüchtige Berliner Senat würde eines Tages 4,5 Millionen für das Radfahren ausgeben, wäre glatt für verrückt erklärt worden. Berlin gehört den Autos, so war es immer, und so sollte es auch bleiben. Jeder Meter Radweg mußte den Stadtplanern mühevoll abgeluchst werden, die Organisationen der ebenso lauffaulen wie automüden Zweiradfreaks stießen auf stocktaube Ohren. Gestern nun wurde praktisch ganz Berlin zu einem einzigen Radweg. Das Zauberwort, das derart Unerhörtes vollbracht hatte, hieß Tour de France.

207 stramme Beinpaare, allesamt männlicher Provenienz, schafften es ohne Schwierigkeiten, den Berliner Autoverkehr auszuschalten, ein Primat der öffentlichen Verkehrsmittel zu bewirken und einen Zustand radlerischer Narrenfreiheit im gesamten Stadtgebiet herzustellen. Verkehrsknotenpunkte, die sonst von tosendem Radau geprägt sind, waren plötzlich mit wohltuender Stille erfüllt. Allerdings nur, bis die Tour anrollte. „Det sind ja mehr Autos als Radfahrer“, stellte ein achtjähriger Schuljunge, der wie seine Kollegen tourfrei hatte, erschreckt fest. Und hinterher waren alle enttäuscht, daß es so schnell vorbei war. Nur eine Gruppe von Dreijährigen tobte und jubelte beharrlich, bis auch der letzte Service– Wagen entschwunden war. All dies wäre nicht möglich gewesen ohne das an Fanatismus grenzende Engagement eines Regierenden Bürgermeisters, der schnell erkannt hat, daß mit seiner Politik kein Staat zu machen ist, und daß er wesentlich besser auf den Trittbrettern sportlicher Großereignisse fährt. Weltcup– Slalom am Teufelsberg, Tour– Prolog auf dem Kurfürstendamm, alles kein Problem für Eberhard Diepgen und seine Gang. Es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis der Americas Cup der Segler auf dem Wannsee stattfindet. Wer da meint, Skirennen gehörten in die Alpen und die Tour de France nach Frankreich, lebt hoffnungslos hinter dem Mond. Mit Geld geht im Sport alles, die Tour– Gewaltigen wissen das schon lange. Sie träumen von einer Tour dEurope oder, wie der 82jährige, exzessiv rüstige Tourdirektor Jacques Goddet, der seine 53. Tour begleitet, gar von einer Tour de Monde mit Start in New York. Drei Millionen Mark, die höchste Summe, die je für einen Auslandsstart der Tour gezahlt wurde - gemessen an den sonstigen Kosten von Berlins 750–Jahr–Brimborium jedoch ein lächerlicher Betrag -, flossen für das Recht, den Prolog und die erste Etappe in Berlin auszutragen, auf die Konten der Tour–Gesellschaft. 1,5 Millionen Mark verschlang die Organisation, aber dafür gelang es Diepgen, ausnahmsweise mal eine Jubiläumsveranstaltung zu zelebrieren, bei der nicht massenhaft Leute verprügelt wurden. Auf die Abriegelung eines Stadtteiles mochten die Verantwortlichen aber auch heuer nicht verzichten. Diesmal traf es das noble Gatow, im Gegensatz zu Kreuzberg beim Reagan–Besuch gab es jedoch eine Menge Einrichtungen für Notfälle, so z.B. einen Hubschrauber, vier Polizeiboote und „gut sichtbare polizeiliche Anlaufstellen“. Für die nächste Kreuzberg–Blockade mögen diese Maßnahmen nicht ganz das Richtige sein, die Gatower Bürger aber waren beruhigt und zogen ihre Klage gegen die Tour zurück. Das Spektakel konnte beginnen, und während 1.000 neue Verkehrszeichen, 1.500 Absperrgitter und acht Kilometer Absperrseile für geregelte Fahrt sorgten, begaben sich die mutigen Pedaleure auf die ersten von 4.203 Kilometern einer Leidenstour, die in diesem Jahr von besonderer Gemeinheit geprägt ist. Von den Wundern der Pharmazeutik getrieben, werden die Fahrer in den nächsten Wochen die Gluthitze französischer Ebenen durchqueren, sich über miese regengepeitschte Straßen quälen, in rasendem Tempo schwindelnde Abhänge hinunterstürzen und Berge von niederträchtiger Steilheit erklimmen. Höhepunkt der Tortur wird das Zeitfahren auf dem wahrhaft mörderischen Mont Ventoux sein. Viele der in Berlin gestarteten Fahrer werden dann schon nicht mehr dabeisein, die auf dem Kurfürstendamm noch recht rosigen Gesichter der anderen werden sich in graue Faltenlandschaften verwandelt haben. Die Berliner Bergwertung hat allerdings noch keinen zur Aufgabe getrieben. Eine der beiden Erhebungen der vierten Kategorie war 50 m, die andere 55 Meter hoch. Im Ziel der ersten Etappe wurden die Fahrer von einem Ensemble erwartet, das einer veritablen nachrevolutionären Fahndungsliste glich. Chirac, Genscher, Diepgen versäumten es nicht, ihre Gesichter publicityheischend den Kameras entgegenzustrecken, und fast hätten sie sich bei der Siegerehrung gegenseitig vom peinsam engen Podium geschubst. Matti

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