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D O K U M E N T A T I O N „Europa ist politisch geteilt, aber unteilbar im Geist“

■ Auszüge aus der Tischrede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker in Moskau

Unsere Verantwortung für eine konstruktive, friedliche Nachbarschaft ist durch die schmerzliche Erinnerung an den unheilvollen letzten Krieg nur noch geschärft. Wir erinnern uns mit Trauer der unsäglichen Verluste und der bewegenden Leiden, die die Völker der Sowjetunion in dem von Hitler in ihr Land getragenen Krieg zu erdulden hatten. Ich sage dies aus eigener Erfahrung als einer, der als Soldat den ganzen Krieg und seine Not miterlebt hat. Am Ende haben wir Deutschen selbst bitter erfa keiner Seite vergessen. Die Erinnerung soll uns aber nicht quälen, sonden helfen. Nur wer die Vergangenheit verleugnet, ist in der schrecklichen Gefahr, sie zu wiederholen. (...) Wir befinden uns in einer Phase von historischem Gewicht zwischen Ost und West. Weitreichende Vereinbarungen sind in greifbare Nähe gerückt. (...) Je klarer unser Bild von morgen ist, desto sicherer werden wir heute den richtigen Weg finden. Entscheidungen von großer Tragweite stehen für die Abrüstung und Rüstungskontrolle bevor. Ihr Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß im Zeitalter der heutigen Waffensysteme militärische überlegenheit sinnlos geworden ist. Die gesicherte Fähigkeit zur gegenseitigen Zerstörung schließt es aus, daß Kriege noch gewonnen werden können. Eine radikale und ausgewogene Verminderung der Rüstungen auch bis tief in den konventionellen Bereich hinein ist das Gebot der Stunde. (...) Die Ost–West–Beziehungen dürfen aber nicht, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer wieder geschehen ist, allein von Sicherheitsdenken beherrscht bleiben. Auch wenn zur Kriegsverhütung nicht auf Abschreckung verzichtet werden kann, darf Abschreckung nicht die Sprache bleiben, in der sich Ost und West am besten verstehen. Vertrauensbildende Maßnahmen haben in der Abrüstung ihr großes Gewicht. Vertrauen kann aber nicht allein im Sicherheitsbereich erwachsen. Auch kann nach Jahrzehnten des Mißtrauens Vertrauen nicht einfach verordnet werden. Es muß sich Schritt für Schritt entwickeln. (...) Mit angespannter Aufmerksamkeit verfolgen wir die bei Ihnen eingeleitete Politik der Umgestaltung. Wir sind der Überzeugung, daß ein Erfolg des neuen Denkens nicht nur Ihrem eigenen Volk, sondern auch der friedlichen Nachbarschaft dienen wird. (...) Auf der Tagesordnung unserer Welt stehen keine Kreuzzüge, kein apokalyptischer Endkampf zwischen dem Guten und dem Bösen, sondern eine wachsende Anzahl von Problemen, die weder Ost noch West allein lösen können: Bevölkerungsexplosion und Hunger in der Welt, fortschreitende Zerstörung der Natur, die an keiner Staats– oder Systemgrenze haltmacht, Energieversorgung, Sucht und Seuchen, ethische Beherrschung des rasanten wissenschaftlich–technischen Fortschritts. Nachfolgende Generationen werden uns daran messen, ob wir diese Herausforderungen rechtzeitig erkannt und gemeinsam aufgenommen haben. Wenn wir unsere inneren Reformen und die gemeinsamen Aufgaben der Menschheit schaffen wollen, tun alle Seiten gut daran, die internationalen Spannungsfelder zu vermindern und außenpolitische Zurückhaltung zu üben, vor allem in bisherigen Interventionsregionen in Zentralamerika, in Afrika und im Mittleren Osten. Wir würden in diesem Zusammenhang einen Erfolg Ihrer Ankündigung begrüßen, daß bald eine überzeugende Lösung mit vollständigem Truppenrückzug für Afghanistan gefunden werden kann. Wenn wir uns dem nächsten Jahrtausend nähern, sollten wir uns vom Denken in Blöcken und Blockgrenzen entfernen. Wichtiger ist es, die Zusammengehörigkeit Europas deutlicher zu erkennen und in politische Münze umzusetzen. Europa ist politisch geteilt, aber es ist ungeteilt und unteilbar im Geist. Alle Völker, vom Atlantik bis zum Ural, haben ihren unverwechselbaren, die Europäer insgesamt bereichernden Beitrag dazu geleistet. Was uns verbindet, ist die gemeinsame Geschichte, die Einheit in der Vielfalt der nationalen Kulturen und das unteilbare Schicksal in der Zukunft auf engem Raum. Wir sind alle der europäischen Aufklärung verpflichtet mit ihrem Zutrauen zur Vernunft und ihrem edlen Respekt vor der Würde des Menschen in Freiheit und Frieden. Auch der junge Karl Marx war von diesem Geist berührt. „Kein Mensch“, so schrieb er, „bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit des anderen.“ Freiheit aber ist Freiheit des Andersdenkenden. (...)

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