Südkorea: Demokratisierung häppchenweise

■ Südkoreas Volksbewegung drängt auf weitergehende Reformen / Aus Seoul Nina Boschmann

Rund vier Wochen nach der überraschenden Ankündigung weitreichender politischer Zugeständnisse durch den Vorsitzenden und designierten Präsidentschaftskandidaten der südkoreanischen Regierungspartei Roo Tae Woo testet die Opposition die Grenzen des politischen Frühlings. Arbeiter, Bauern und Studenten fordern die Abschaffung der Anti–Demopolizei und die Garantie gewerkschaftlicher Rechte, die Regierung reagiert mit selektiver Repression und kleinen Zugeständnissen.

Mit geballter Faust betritt Margarita - ehemals beim US–Multi Control Data beschäftigt, aber vor Jahren wegen politischer Aktivitäten entlassen - vor den Altar der Kirche der evangelischen Arbeitermission in der Nähe des Seouler Industriegebietes Kuro und erklärt mit ruhiger Stimme: „Willkommen zum zweiten Treffen der Korean Womens Workers Association. Wir sind hier zusammengekommen, um über die Arbeitsbedingungen von Frauen zu sprechen. Ihr wißt, wir kämpfen nicht nur für die Befreiung der Arbeiterinnen, sondern aller Frauen, aber die Arbeiterinnen stehen an vorderster Front. Während das Bruttosozialprodukt unserer Nation angeblich bei über 2.000 US–Dollar pro Kopf angekommen ist, verdienen Frauen hier nicht einmal halb so viel wie ein Mann. Sie müssen die längsten Arbeitszeiten der Welt ertragen und werden obendrein von ihren Vorgesetzten oft genug vergewaltigt und verspottet. Wenn wir die grundlegenden Rechte der Arbeiter nicht durchsetzen, wird es in diesem Land keine Demokratie geben.“ Über zweitausend meist junge Frauen applaudieren ihr begeistert, schwermütige traditionelle Lieder zu Trommelschlägen werden angestimmt, gefolgt von einem fröhlichen Spottvers über die Plage der Menstruation. Die nächste Sprecherin berichtet von drei jungen Frauen, die gezwungen wurden, 72 Stunden am Stück zu arbeiten und anschließend vor Erschöpfung tot zusammenbrachen; eine Delegierte der verbotenen Textilgewerkschaft „Chongye“ erzählt, wie die Polizei wenige Tage zuvor einschritt, als sie ein Büro eröffnen wollten. Im Saal ist kein Stehplatz mehr zu bekommen und selbst im Hof versuchen noch Hunderte von Interessierten ein paar Wortfetzen aufzuschnappen. „Vor dem 29. Juni“, sagt dazu die Sozialarbeiterin Lim Kyung–Ran, „wäre das hier unmöglich gewesen. Die evangelische Industriemission gilt als kommunistisch unterwandert, und sobald wir irgendeine Veranstaltung geplant hatten, wurde die ganze Gegend von Polizeibussen abgesperrt.“ Jetzt herrscht hier am Wochenende immer Hochbetrieb, in den von Ex– Studenten und Missionaren geleiteten Studienzirkeln wird offen über gewerkschaftliche Rechte diskutiert. Demokratischer Frühling Der politische Frühling erscheint Außenstehenden nicht spektakulär, doch für Korea, wo sich die Diktatur in der subtilsten Beeinflussung und staatlichen Kontrolle aller Lebensbereiche äußert, sind selbst kleinste Frei räume ein Novum, das voll Spannung registriert wird. Da erklären Reporter der staatlichen Fernsehgesellschaft KBS, sie schämten sich, in der Vergangenheit nicht energischer für die Pressefreiheit gekämpft zu haben. Da wagt der angesehene christliche Radiosender CBS zum ersten Mal seit sieben Jahren, Nachrichten zu senden (was ihm 1980 nach der Machtergreifung der Diktatur untersagt worden war). Professoren schließen den staatlich ernannten Präsidenten der Seoul National University mangels Qualifikation aus der Akademie der Wissenschaften aus. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Flugblätter mit neuen Forderungen auftauche. Wo Roo Tae Woo sich als dialogbereiter, gemäßigter Politiker zu profilieren versuchte, wollen die Arbeiter Mindestlöhne, Streikrecht und freie Gewerkschaften, die Bauern gerechte Preise für ihre Produkte und eine Pachtreform. Wo Roo den Opfern des Kwangju– Aufstandes Entschädigung anbietet, weisen die darauf hin, daß der - frisch ernannte - Verteidigungsminister einer der Hauptverantwortlichen für das Massaker 1980 war und fordern die Erwähnung des Aufstandes in der Verfassung. Der neue Zusammenschluß außerparlamentarischer Gruppen, NCDC, diskutiert ganz offen, ob er mehr ideologisches Profil zeigen oder eine Funktion wie die berühmte phillippinische „Bürgerbewegung für faire Wahlen“ anstreben soll. Und sogar im Sischerheitsapparat zeigen sich erste Risse: Am 8. Juli verließ der Polizist Yang Sun–Kyun seine Einheit und forderte, bevor er untertauchte, seine Kameraden vom Büro der evangelischen Menschenrechtsorganisation aus zur Befehlsverweigerung auf. Wie es heißt, nehmen einige junge Polizisten jetzt lieber ihren freien Tag, wenn ein größerer Einsatz bevorsteht. Selektive Repression In der Gunst der Stunde wird auch so mancher kleine Krieg gewonnen. So erhielten Bewohner eines Dorfes der traditionell aufmüpfigen südlichen Cholla–Provinz nach vierjährigem Zwist mit einer Chemiefirma, die ihnen das falsche Pestizid verkauft hatte, jetzt plötzlich eine großzügige Entschädigung von 100.000 Mark: Die cleveren Dörfler hatten herausgefunden, daß der Hersteller des Allroundkillers ein Klassenkamerad von Roo Tae Woo war, in Korea ein beliebtes Argument, um politische Kumpanei nachzuweisen. Doch ob diese Situation von Dauer sein wird, vermag niemand zu sagen. „Im wesentlichen“, so lautet das übereinstimmende Statement aller Volksorganisationen, „hat sich nichts geändert.“ Hunderte von politischen Häftlinge sind noch in Haft, darunter die am schwersten gefolterten. Noch immer sind brutale Polizeieinsätze gegen die überall stattfindenden kleineren Demonstrationen an der Tagesordnung - seien es Familienangehörige von inhaftierten Arbeitern, die kürzlich in der Hafenstadt Incheon protestierten oder ein Trauerzug für einen verstorbenen Invaliden des Aufstandes von Kwangju, dessen Familie gern am Gebäude der Pro vinzregierung vorbeimarschieren wollte. Die Diskussion über die Wiederzulassung von Studenten, die wegen politischer Aktivitäten von den Universitäten verwiesen wurden, dümpelt über dem Problem, was wird mit den vielen, die wegen eines Knastaufenthaltes durch die Prüfungen gefallen sind. Die heikle Frage gar, ob nicht auch gefeuerte Arbeiter ein Recht auf Wiedereinstellung haben, wird bislang selbst innerhalb der Opposition mit spitzen Fingern behandelt. Alle führenden Wirtschaftsverbände haben sich energisch gegen eine Ausweitung der gewerkschaftlichen Rechte ausgeprochen und fordern stattdessen die Aufhebung der staatlichen Weisungsbefugnis gegenüber den Großkonzernen. Die liberalkonservative Oppositionspartei RDP hat in ihrem Dilemma durchblicken lassen, sie werde sich für beides einsetzen.