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Krimtataren: Die Geschichte eines Vorurteils

■ Die von Stalin deportierten Krimtataren, die in Moskau für ihre Rückkehr demonstriert hatten, sind am Wochenende aus Moskau abgeschoben worden / Jahrhundertealte Nationalitätenkonflikte und Vorurteile erklären, warum es der Regierung so schwer fällt, die Forderung der Tataren zu erfüllen

Von Erhard Stölting

Daß die Krimtataren überhaupt in Moskau demonstrieren durften und von Staatspräsident Gromyko empfangen wurden, ist der neuen Politik Gorbatschows zu verdanken. Immerhin ist auch ihr (inoffizieller) Sprecher Mustafa Dshemilew wieder frei, der fünfzehn Jahre lang von Lager zu Lager geschleift worden war. Aber zu einer Rückkehr der damals 350.000, die Stalin 1944 nach Mittelasien deportieren ließ, hat sich die Regierung in Moskau immer noch nicht durchgerungen. Wolgadeutsche und Krimtataren sind die einzigen der damals deportierten Völker, die noch auf ihre Rehabilitierung warten: Alle anderen haben ihre Rückkehr längst erkämpft - hartnäckig und zum Teil sogar mit Gewalt. Warum also galt die Forderung der Krimtataren als besonders staatsfeindlich, während Karatschaier und Kalmyken, Tschetschenen genauso wie Inguschen und Balkaren längst wieder im heimatlichen Kaukasus oder in der Steppe waren und sich dort mit den in ihrer Abwesenheit Angesiedelten herumprügelten? „Vaterlandsverrat“ war Stalins offizielle Begründung, genauso wie bei den Wolgadeutschen. Die hatten erst gar keine Chance, sie wurden gleich bei Kriegsbeginn 1941 sozusagen präventiv deportiert. Die übrigen Völker ließ Stalin aus Rache verschleppen, nachdem man die deutsche Armee zurückgeschlagen hatte, in deren ausländischen Divisionen viele Nationalitäten gekämpft hatten. Doch der Diktator blieb inkonsequent: Kollaborateure gab es schließlich auch bei Völkern, die dann nicht deportiert wurden. Und vor allem: Längst nicht alle Krimtataren kämpften auf Hitlers Seite: Die Schätzungen reichen von 5.000 bis 20.000. Weitaus mehr von ihnen jedenfalls halfen als Soldaten der Roten Armee, die Invasoren zu schlagen. Vorurteile und ihre Geschichte Das gesunde Volksempfinden in Moskau kann es offenbar mit dem in Berlin und Wien aufnehmen. Als „Vaterlandsverräter“ wurden noch ein halbes Jahrhundert später die in Moskau demonstrierenden Krimtataren von Passanten beschimpft. Der gemeinsame Schlüssel für anti–tatari sches Volksempfinden wie für Stalins Kollektivrache findet sich - wie bei allen derartigen Vorurteilen - in der Überlieferung der Geschichte. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts mußten die russischen Fürsten den tatarischen Fürsten (“Khanen“) an der Wolga Tribut zahlen, den sie bei den eigenen Untertanen eintrieben. Da die Fürsten verständlicherweise gern nahmen, aber ungern gaben, erschienen die tatarischen Oberherren als erbarmungslose Despoten, obwohl deren Greueltaten die damals in Europa üblichen Standards nicht überschritten. Nach der Eroberung des tatarischen „Reichs von Kasan“ durch Iwan den Schrecklichen (1552) konnte das Bild ergänzt werden. Auf die Vertreibung aus den Städten, die Konfiszierung des fruchtbaren Bodens und gewaltsame Christianisierungswellen reagierten die türkischen Tataren mit Aufständen. Immer wieder schlossen sich auch Kosaken und Bauernrebellionen an (wie 1670/71 oder 1773/74). Aus der Sicht der Herrschenden sind alle Aufständischen „blutrünstig“. Doch hier wurde der Blutdurst „typisch tatarisch“. Das Vorurteil verstärkte sich mit der nationalistischen Geschichtsschreibung seit Ende des 18. Jahrhunderts. Die ganze ältere Geschichte erschien als Befreiungskampf des russischen Volkes vom Tatarenjoch. So gelangte das Bild auch in den Westen, fand als „asiatischer Despotismus“ seinen Eingang ins marxistische Schrifttum und endete als Beefsteak Tartar auch noch auf unseren Butterbroten. Tatarische Renaissance Als Katharina II. ab 1780 den Verfolgungen ein Ende setzte, die Reorganisierung des islamischen Bildungswesens gestattete, den tatarischen Adel dem russischen gleichsetzte, förderte sie auch die ökonomische Entwicklung. Ein Teil der aus den Städten vertriebenen Adligen und Handwerker (Wolgatataren) war zu Kaufleuten geworden, die als Mittler zwi schen den russischen und den zentralasiatischen Märkten fungierten, auf denen Christen nicht zugelassen waren. Es entstand eine weltoffene tatarische Handelsbourgeoisie, die einen intensiven kulturellen Aufschwung trug und finanzierte. Die Krimtataren, deren Fürstentum erst 1793 von Katharina annektiert wurde, machten zunächst eine andere Entwicklung durch. Obwohl sie zunächst kaum zentralstaatlichen Repressionen ausgesetzt waren, zerfiel ihre Sozialstruktur rasch. Mehrere Auswanderungswellen ins Osmanische Reich (dessen Vasallenstaat die Krim gewesen war), das Nachdrängen oder Ansiedeln russischer, ukrainischer und deutscher Bauern sowie staatliche Bodenschenkungen an russische Adlige führten zu einer Veränderung der Bevölkerungsstruktur auf der Krim. Ende des 19. Jahrhunderts waren die Tataren in der Minderheit: 187.000 bei einer Gesamtbevölkerung von 530.000. Bei den verarmten, ins un fruchtbare Innere der Halbinsel verdrängten Krimtataren dagegen hatte sich im 19. Jahrhundert keine eigene Bourgeoisie gebildet - und damit auch kaum ein Sonderbewußtsein. Je mehr die Identifikation mit dem Osmanischen Reich abnahm, desto stärker wurden die Bindungen an die wolgatatarischen Intellektuellen. 1860, nach der russischen Eroberung Zentralasiens, wurden die tatarischen Zwischenhändler an der Wolga überflüssig, und die Repression setzte wieder ein. Dieses tatarische Bürgertum und seine Intelligenz reagierten mit Politisierung. Dank des wachen innovativen Geistes, der alle Handelsvölker auszeichnet, wurden sie zur kulturellen und politischen Elite der islamischen Welt Rußlands. Eine der herausragenden Gestalten dieser Bewegung war der krimtatarische Adlige Ismail Bey Gasprinskij, der neben der islamischen auch eine russische Bildung genossen hatte und der den Westen kannte. In Anlehnung an den Panslawismus formulierte er die Ideologie des Pantürkismus, deren Ziel die politische Einigung aller türkischen Völker vom Balkan bis nach China ist. Teilen und Herrschen Gasprinskijs Schüler gründeten zur Zeit der Februarrevolution 1917 auf der Krim die „Milli Firka“ (Nationalpartei), die zunächst eine Tatarenrepublik auf der Krim schaffen sollte. Während des Bürgerkrieges war die ganze Halbinsel allerdings fest in „weißer“, gegenrevolutionärer Hand. Sie war das letzte Rückzugsgebiet von General Wrangel; von ihr aus evakuierten britische und französische Schiffe die geschlagenen Weißgardisten nach Istanbul. Ende 1921 wurde dann die Autonome Sowjetrepublik Krim durch Dekret des Obersten Sowjet gegründet - als Teil der Russischen Föderativen Sowjetrepublik. Ihre Regierung bestand zunächst aus einer Koalition von russischen Kommunisten und zur KP übergetretener ehemaliger Mitglieder der „Milli Firka“. Russisch und Tatarisch waren beides offizielle Sprachen. Die tatarische Linke gab damit jedoch nicht ihre pantürkischen Ziele auf. Die teils 1920, teils bereits 1918 zu den Bolschewiki Übergetretenen bildeten unter Führung von Mir Said Sultan Galijew eine eigene Fraktion. Ihr Ziel war eine großtürkische Sowjetrepublik und eine unabhängige islamische KP. Die Moskauer Führung schloß sich diesen Vorstellungen nicht an, sondern verurteilte 1923 erstmals öffentlich diesen „Sultangalijewismus“. 1924 wurde die größte Türk–Republik der Sowjetunion, Turkestan, in drei Republiken aufgesplittert: Usbekistan, Tadshikistan und Turkmenistan. Sultan Galijew und mehrere seiner Anhänger wurden 1928 hingerichtet. Bis 1938 wurde fast die gesamte ältere tatarische Intelligenz liquidiert. Der Gegensatz der russischen zur tatarisch–islamischen Intelligenz war mithin Parteitradition. Hinzu kam, daß dieser Intelligenz die Arbeiter fehlten. Die nichtbürgerlichen Tataren waren überwiegend Bauern. Genauso wie die christliche Landbevölkerung blieben auch sie dem atheistischen Kommunismus gegenüber distanziert. Wenn 1922 unter den 5.875 KP– Mitgliedern auf der Krim sich nur 192 Tataren befanden, konnte dies als üblicher bäuerlicher Widerstand gelten. Wer die religiöse Frage betonte, konnte darin auch islamische Verblendung sehen; und für nationalistische Gemüter war es potentielle tatarische Feindschaft und Verräterei. Ein stalinistisches Muttermal beseitigen Die gegenwärtige Situation ist, wie man in der Sowjetunion sagen würde, „kompliziert“. Eine Aufarbeitung der stalinistischen Vergangenheit müßte auch die Deportation der Krimtataren rückgängig machen. Das aber könnte zu sozialen Konflikten führen, die den nationalistischen Bodensatz aufrühren. Um so gefährlicher, als ein Machtspruch aus Moskau in der Ukraine antirussische Ressentiments verstärken kann. Denn 1954 wurde die Krim, bis dahin Teil der Russischen Föderativen Sowjetrepublik anläßlich der 300jährigen russisch–ukrainischen Wiedervereinigung, der Ukraine geschenkt. Das Nationalitätenproblem wird die sowjetische Politik noch eine Weile in Atem halten. Den Tataren andererseits nicht das Recht zu gewähren, sich niederzulassen, wo sich andere niederlassen dürfen, hieße, die „Muttermale“ der stalinistischen Gesellschaft zu verewigen, zu deren Beseitigung die „perestrojka“ begonnen wurde.

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