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„Soziale Kontrolle“ gegen die Korruption

■ In Nicaragua ist das Thema Korruption und Schlamperei längst nicht mehr tabu / Die einen bestehlen den Staat, weil ihre Löhne so niedrig sind, die anderen, weil die Kontrollen zu lasch ausfallen / Damit die illegale Bereicherung nicht weiter ein Kavaliersdelikt bleibt, soll ihr jetzt mit „sozialer Kontrolle“ begegnet werden

Aus Managua Ralf Leonhard

Während die Sandinistische Armee den Truppen der Konterrevolution eine Schlappe nach der anderen bereitet, droht das Hinterland im Sumpf von Korruption und Schlamperei zu versinken. Fast jeden Tag wird ein neuer Fall von Unterschlagung, Veruntreuung und illegaler Bereicherung in der staatlichen Verwaltung aufgedeckt. In den ersten Revolutionsjahren war das Thema tabu. Inzwischen sind Korruptionsfälle beliebter Gegenstand der Berichterstattung in den Medien. Nur über ganz große Fische wird ein Mantel verschämten Schweigens gebreitet: etwa den letzten Postminister Alvarado, der sich vergangenes Jahr über Nacht nach Costa Rica abgesetzt und die Dollarkonten seines Ministeriums in Panama ausgeräumt hatte. Ins Kreuzfeuer der Kritik ist in der letzten Zeit auch die Zollbürokratie geraten, in deren Labyrinthen Millionenwerte verloren gehen. Die Lagerhallen im Hafen Corinto sind gefüllt mit Waren, die von den zuständigen Ministerien nicht abgeholt werden. Die Regierung will den Mißständen jetzt mit „sozialer Kontrolle“ begegnen. Francisco Javier Urbina, bis vor kurzem stellvertretender Geschäftsführer des staatlichen Zulieferers für agroindustrielle Betriebe PAISA, fuhr zwei neue Autos und erwarb ein Landgut außerhalb von Managua, bevor er in Untersuchungshaft landete. Gemeinsam mit seinem Verkaufsleiter Jorge Telleria hatte er zwei Jahre lang Reifen, Ersatzteile und Zubehör für Agrarmaschinen abgezweigt und illegal verkauft. Den Vogel schoß er ab, als es ihm gelang, ein Zylinder–Reparaturset, das offiziell 11.000 Cordobas kostet, für eine Million (rund 2.000 Dollar) loszuschlagen. Wo bleibt der „neue Mensch“? Funktionäre aus der Bananenbranche mußten vor einigen Monaten zugeben, daß der illegale Handel mit den gelben Früchten den staatlichen weit übertraf. Nur durch einen Vertrag, der den Bananendiebstahl auf den staatlichen Plantagen im nachhinein legalisierte und ihr den Erwerb der Ware auf dem Schwarzmarkt ermöglichte, konnte die Vermarktungsgesellschaft überhaupt ihre internationalen Lieferverpflichtungen erfüllen. Droht die sandinistische Revolution, die einst angetreten war, den „neuen Menschen“ zu schaffen, in einem Sumpf von Korruption zu versinken? Regierung und Fachleute aus Wirtschaft und Ver waltung zerbrechen sich immer lauter den Kopf über Ursachen und Lösungsmöglichkeiten. Daß die gestiegene Wirtschaftskriminalität mit dem drastischen Kaufkraftverfall des Cordoba und der Wirtschaftsmisere im allgemeinen zu tun hat, liegt auf der Hand. Gestohlen wird nicht nur im großen Maßstab, sondern auch in den Betrieben, Spitälern und Supermärkten, wo die Arbeiter ihren Hungerlohn durch Selbstbedienung aufbessern. Allein in den Monaten Mai und Juni wurden aus einem Arbeitersupermarkt in Managua zwölf Angestellte wegen Diebstahls entlassen. Dr. Viquez von der Vereinigung demokratischer Juristen erklärt das Problem historisch. Er sieht die Korruption als „kapitalistisches Übel, das uns 40 Jahre So moza–Diktatur hinterlassen haben. Die Revolution mußte den neuen Staat mit denselben Staatsangestellten und Lehrern aufbauen“. Mangel an Moral und Professionalität als Ergebnis einer unkritischen Personalauswahl, Frustration über schlechte Bezahlung, ein landesweiter Mangel an qualifiziertem Personal, Nachlässigkeit und übertriebene Personalrotation, das sind nach Ramon Solorzano von der Vereinigung der öffentlichen und privaten Buchhalter Nicaraguas die Ursachen. Nicht zuletzt öffne die allgemeine Ablehnung innerer Kontrollmechanismen und die schlampige und verschleppte Buchhaltung in den meisten Betrieben der Korruption Tür und Tor. Sein Lösungsvorschlag: Alle Direktoren und Geschäftsführer sollen bei Amtsantritt ihre Vermögensverhältnisse offenlegen. Gerichte überfordert Die Justiz jedenfalls ist dem Problem nicht gewachsen: Von den 360 im ersten Halbjahr 1987 von der Polizei aufgedeckten Fällen sind lediglich 25 Unterschlagungen und sechs größere Betrügereien vor Gericht anhängig. Obwohl das Gesetz über Schädigung von Staatseigentum aus dem Jahr 1985 Strafen von zwei bis zwölf Jahren und sogar Einziehung des Vermögens vorsieht, kommen die meisten Verurteilten mit der Mindeststrafe davon und sind bald auf Bewährung wieder auf freiem Fuß. Von der Möglichkeit der Vermögenseinziehung wird überhaupt kein Gebrauch gemacht. Vergehen gegen den Staat werden offensichtlich auch im revolutionären Nicaragua als Kavaliersdelikte aufgefaßt - zumindest von den Richtern, die in der Regel derselben sozialen Schicht entstammen wie die straffälligen Geschäftsführer. „Wir sind uns wohl bewußt, daß Unterschlagungen, Veruntreuung und Betrug zugenommen haben, und wir glauben, daß das einzige Gegenmittel in den Händen derjenigen liegt, die in den Betrieben arbeiten“, erklärt Justizminister Rodrigo Reyes in einer Stellungnahme. „Soziale Kontrolle“ heißt das Schlagwort, das seit einigen Monaten propagiert wird. Die Arbeiter in den Betrieben und die Angestellten in den Ämtern sollen den Chefs auf die Finger schauen, die Nachbarn im Wohnblock den Einzelhändlern, die Passagiere den Bus–Chauffeuren und Taxilenkern. Die sandinistischen Gewerkschaften CST (Central Sandinista de Trabajadores) und ATC (Asociacion de Trabajadores del Campo) haben bereits zum „ideologischen Kampf gegen die klassenverräterischen Arbeiter“ aufgerufen - also gegen diejenigen, die am Arbeitsplatz schlafen, sabotieren oder sich bedienen. Lucio Jimenez, der Generalsekretär der CST, Mitte Juli: „Die 520.000 Lohnabhängigen werden nicht weiter zulassen, daß eine Minderheit ihre Produktionsbemühungen hintertreibt“. Jeden Samstag tagt nun im Sitz der CST eine „Nationale Kommission gegen die Entwendung von Produkten“. Was der Volkswirtschaft mindestens ebensoviel Schaden zufügt wie die Kriminalität, ist die Lahmarschigkeit der Beamten und das kafkaeske Labyrinth der Zollbürokratie. Die Lagerhallen im Exporthafen Corinto oder die des Zollamtes in Managua bersten vor nicht abgeholten Waren. Wenn es sich dann noch um lebenswichtige Medikamente oder Nahrungsmittel handelt, wird die Schlamperei kriminell. Waren verderben im Zoll Während in Managua und anderen Städten der Mais - das traditionelle Hauptgetreide der Region - knapp wurde und Spekulanten für die gelben Körner Phantasiepreise erzielen konnten, lagen im kleinen Pazifik–Hafen von San Juan del Sur 4.000 Tonnen Mais, die monatelang vom Innenhandelsministerium nicht abgeholt wurden. In den Ministerien, wo es kein Geheimnis ist, daß die Zollformalitäten oft mehrere Tage in Anspruch nehmen, fühlt sich keiner zuständig. Das hat jüngst eine Umfrage von „Radio Sandino“ deutlich gemacht. Die sandinistische Tageszeitung Barricade meldete kürzlich, daß in Corinto 490 Fässer mit Butteröl und über 2.000 Dosen Konservenfleisch auf ihre Abholung durch die zuständigen Minsterien warteten. Und in einem beißenden Kommentar eines unabhängigen Rundfunkprogramms (El Pensamiento) hieß es, das staatliche Wasserwerk solle die häufigen Versorgungsunterbrechungen nicht mit Ersatzteilmangel rechtfertigen, denn seit Mai lägen Pumpen und Ersatzteile im Zoll. In den Lagern der halbstaatlichen COFARMA, wo alle aus dem Ausland eintreffenden Medikamente vorübergehend untergebracht werden, verrotten Millionenwerte an Medizin, die von keinem abgeholt wird. Seit einiger Zeit sorgen Freiwillige aus der Solidaritätsszene dafür, daß die Spenden vor dem Ablaufdatum an ihren Bestimmungsort kommen. Die Verteilung von 8.000 Tonnen Kartoffeln aus der DDR, die im Mai und Juni überraschend eintrafen, beanspruchte die ganze Transportflotte des Hafens, alles andere mußte warten. Kurz darauf stellte die Einführung einer Währungsstabilisierungssteuer, die auf alle nicht–essentiellen Importe erhoben wird, die Zollbürokratie vor ein neues Hindernis. Wochenlang ging fast nichts, da umständlich geprüft werden mußte, welche Waren betroffen sind und welcher der zahllosen Steuersätze jeweils zur Anwendung kommt. Teodulo Baez, der neue Chef der Zollbehörde, will jetzt hart durchgreifen. Staatliche Institutionen schulden dem Zoll insgesamt eine Milliarde Cordobas (rund zwei Millionen Dollar) an Lagergebühren. Jetzt will er alle Waren, die binnen zwei Monaten nicht abgeholt werden, versteigern lassen.

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