piwik no script img

Die Korrumpierung der Bildungsreform

■ Ob „Abi–Deform“, Bußgelder für sog. Langzeitstudenten, ob generelle Verkürzung von Studienzeiten oder Kahlschlag beim BAFöG: Was als „Bildungsreform“ propagiert wird, ist nichts anderes als die Einführung einer restriktiven Ordnungspolitik / Marktgesetze beherrschen Schule und Uni / Wettbewerb ist angesagt

Von Detlef Berentzen

Sturm zieht auf über der bildungspolitischen Landschaft. Der Herbst steht vor der Tür - Ereignisse wie die Kultusministerkonferenz (KMK) im kommenden Oktober, die voraussichtlich die sogenannte „Abi–Deform“ beschließen wird, oder die geplante Übernahme des Vorsitzes der Bund–Länder–Kommission (BLK) durch Bundesbildungsminister Möllemann (FDP) werden es sein, die die Gemüter in den kommenden Monaten erhitzen. Hat doch der agile Minister bereits Flagge gezeigt, indem er ein Arbeitsprogramm für die BLK avisierte, das an restriktiven Zielsetzungen kaum zu überbieten ist: Verkürzung der „überlangen“ Studienzeiten, Aufstellung einer „Rangliste“ der Hochschulen, Reduzierung der Aufgaben der Zentralen Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) und damit die Installierung des Rechts der Hochschulen, sich ihre Bewerber künftig selbst auszusuchen: Gleichzeitig begreifen wir erst heute die Auswirkungen des sogenannten „BAFöG–Kahlschlags“, der zunehmend Bewerber aus Bevölkerungsschichten mit niedrigem Einkommen vom Hochschulbesuch ausschließt und damit jeden Gedanken an „Chancengleichheit“ zur Farce werden läßt. Von den Zielen ursprünglicher Bildungsreform also keine Spur mehr Im Gegenteil, man geht sogar daran, jede Spur von Reform zu tilgen. Was heutzutage in der Bundesrepublik als Bildungspolitik verkauft wird, ist kulturkämpferische Ordnungspolitik und verdient den Namen Restauration. Von Revolte keine Spur Doch damit diese Tatsache ins Bewußtsein zumindest eines Teils der Öffentlichkeit rückte, bedurfte es massiver Protestaktionen von StudentInnen und SchülerInnen, die im Mai und Juni dieses Jahres für Schlagzeilen in der Tagespresse sorgten. Mittlerweile ist wieder Ruhe eingekehrt, doch man wird die Sommerpause, die allerorten Hörsäle und Schulen leert, vor allen Dingen auf Seiten der Bonner Koalition und Landesregierungen nutzen, um Möglich keiten zu sondieren, wie ständig schrumpfende Etats mit dem gewachsenen Bildungsbedürfnis junger Menschen unter einen Hut zu bringen sind. Primat dieses Unternehmens: Ruhe bewahren. Keine Provokation! Auf keinen Fall die Unruhe, die beispielsweise bei den niedersächsischen Studenten in wochenlangen Streiks, Institutsbesetzungen und „Go–Ins“ kulminierte, noch einmal heraufzubeschören. Und erst recht nicht die Schüler, in den letzten Jahren als brave Manövriermasse hochgeschätzt, noch einmal zu Streiks, Schulbesetzungen und Sternmärschen veranlassen. Nicht daß die Aktionen deutscher Schüler und Studenten in den letzen Monaten ein neues 1968 gewaltig an die Pforten pochen ließen. Nein. Denn schaut man genauer hin, z.B. auf die Publikationen der „neuen Bewegung“, weiß man eines: Deutschlands Schüler und Studenten wollen lernen, wollen studieren - und sehr wohl auch das, was ihnen an Studieninhalten geboten wird: Die Hochschule ist für den heutigen Studenten längst kein Austragungsort gesellschaftspolitischer und damit inhaltlicher Konflikte mehr, und wer eine Universität besucht, wird dort im wesentlichen Geschäftigkeit finden. Und wenn ein Uwe Wesel für die Zeit trauernd die „alte Mutter FU“ in Berlin besucht, dann hat das schon etwas sehr Spezielles: Wenn der alte Vizepräsident der FU (69 bis 73) schon die Radikalität seiner sentimentalen Spaziergänge zu Geld machen kann - jener Wesel, der seinerzeit noch ein Feindbild für Teile der studentischen Linken abgab - dann ist es weit, sehr weit gekommen. So weit, daß Minister Möllemann ein Studentenparlament in der Bundeshauptstadt fordern kann und ihm der Ring Christlich Demokratischer Studenten prompt die Ausführungsbestimmungen für dieses Vorhaben zustellen läßt. Gemeinsames Anliegen der Koalitionspartner: dem VDS das Totenglöckchen läuten. In einem derartigen Klima wurden auch die Forderungen von Bundes– wie von Länderseite nach kürzeren Studienzeiten (Wettbewerbsargument) immer lauter, und man holte unversehends Sanktionspläne für Langzeitstudenten aus den Schubladen: Bei überlangen Studienzeiten sollen 500 bis 1.000 Mark pro Semester bezahlt werden - die Überraschung war groß. Restriktionen und sonst gar nichts Gleiches gilt für den Fall des niedersächsischen Studenten, der plötzlich davon Kenntnis erhält, daß per sofort Etatkürzungen für seinen Fachbereich in Kraft treten sollen, bestimmte Lehrangebote demnächst einfach nicht mehr existieren werden und außerdem im nächsten Monat noch jene Bibliothek schließt, die ihn bislang so hervorragend vor dem Kauf einiger sündhaft teurer Fachbücher bewahrte. Restriktionen dieser Art werden allerorten mit der Erschöpfung der Landeshaushalte begründet, bei denen z.B. im Falle Niedersachsens in den nächsten Jahren Einsparungen in Höhe von 700 Millionen Mark anstehen. Solcherlei Sparvorhaben nun treffen alle Hochschulangehörige. Wen wundert es also, daß nicht nur die Studenten, sondern ebenfalls ihre Professoren, Assistenten und sonstigen Hochschulbediensteten auf die Straße gingen. Ähnliche Einschränkungen dürften wohl auch den Studenten aus dem Bundesland Nordrhein– Westfalen ins Haus stehen. Was man ihnen von sozialdemokratischer Seite als „Bildungsplan für das Jahr 2000“ anbietet, wird vornehm „Straffung“ des Studienangebots genannt, meint aber nicht viel mehr als Zusammenlegungen und Streichungen von ganzen Studiengängen. So wird die Lehrerausbildung an bestimmten Orten des größten deutschen Bundeslandes bis zum Sommer nächsten Jahres vollständig gestrichen werden. Überhaupt, die Lehrer. Sie haben schlechte Karten. Nicht nur, weil sie sich mancherorts mit erzwungenen Aufenthalten in sog. „Karussels“ (NRW) begnügen müssen. Von konservativer Seite ausgewertete demographische Trends lassen die Planzahlen der Ministerien in puncto Lehrerbedarf empfindlich schrumpfen. Ganz im Gegensatz zu den ein schlägigen Lehrergewerkschaften, die in ihren Prognosen einen langfristig höheren Bedarf an Lehrern ansetzen und schon jetzt die prophylaktische Schaffung Tausender Planstellen fordern. Auch die Gymnasiasten bleiben nicht verschont von „Reformen“: Ihnen soll gar auf Grund einer Intervention des Bundesverteidigungsministeriums die Schulzeit verkürzt werden. Die Ausdehnung der Wehrpflicht von 18 auf 21 Monate veranlaßte das Ministerium bereits im letzten Jahr zur Forderung nach einer Verkürzung des 13. Schuljahres, i.e. einer Vorverlegung der Abiturprüfung. Aber nicht nur solcherlei Eingriffe bewegen den bundesdeutschen Schüler. Noch heißere Debatten werden um die seit langem zwischen den Kultusministern der Länder verhandelte „Reform der gymnasialen Oberstufe“ geführt, die von den Schüler als „Abi–Deform“ kritisiert wird. Zurück zur Lateinschule? Die Konservativen betreiben seit Jahren die Demontage dieser im Jahre 1972 konzipierten Reform, die als wesentliche Konsequenz die Auflösung der damaligen Klassenverbände in variable Kombinationen von Grund– und Leistungskursen aufzuweisen hatte und auch Schluß machte mit dem bis dato gültigen System von Benotung. Doch schon die individuelle „Anpassung“ der Reform an die Länderinteressen führte in der Tat zu ihrer „Deformierung“. Was die Konservativen in der Bundesrepublik jetzt betreiben, ist die Zementierung bzw. Verstärkung dieses Trends in Form von Vereinbarungen und diversen Novellen. „Zurück zur Lateinschule“, das ist die Richtung in der die meisten Kritiker der „Deform“ den Zug fahren sehen - im Rückwärtsgang. Die „Reformer“ wiederum beschwören das Bild eines „Struwelpeter–Abiturs“: zu wenig deutsche Klassiker, zu wenig Naturwissenschaften stellen angeblich den Wert heutiger Reifeprüfungen in Frage. Was käme dabei heraus, wenn jeder Schüler nach seinem Gusto die Abiturfächer wählt, (wie es bisher zumindest eingeschränkt noch möglich ist): Womöglich eine Reifeprüfung in den Fächern Kunst und Musik! Das scheint unbotmäßig: „Wertverfall“ wird da gezetert, und weil man halt nichts Neues anzubieten weiß, greift der konservative Bildungstechnokrat auf Altbekanntes zurück und nennt es: „Sicherung einer gemeinsamen Grundbildung“. Bildungspolitik in der Bundesrepublik von heute ist also einerseits in der Qualität eines konservativen Kulturkampfs zu begreifen, bei dem die Opposition aus Sozialdemokraten und Grünen nur einen Schaukampf liefert. Doch hat dieser Kulturkampf noch eine andere Dimension - eine quantitative. Heutige Bildungspolitik ist mehr denn je ein Problem der staatlichen Ökonomie. Marktwirtschaftliche Prinzipien halten Einzug in Schulen und Unis, Wettbewerb ist angesagt und „Ausstoß“ nach den Erfordernissen der Ökonomie. Wenn im Herbst die letzten Hüllen der Bildungsreform fallen und ihr deformierter Torso sichtbar wird, dann haben die „Ausgestoßenen“ das Wort. Oder auch nicht. Man darf gespannt sein. Detlef Berentzen

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen