piwik no script img

Selbstheilung - ein unerforschtes Phänomen

■ Frankfurter Fachhochschule begann Befragung von Fixern, die durch Selbstentzug „clean“ wurden / Erfolgsquote möglicherweise höher als bei herkömmlichen Therapien

Aus Frankfurt Heide Platen

Die Fachhochschule Frankfurt hat sich seit dem Mai 1986 auf Neuland gewagt; auf die Untersuchung der Erfahrungen von sogenannten „Selbstheilern“. „Selbstheiler“ sind Menschen, die es geschafft haben, ihre Drogensucht ohne Therapien oder Zwangsmaßnahmen zu beenden. Das Phänomen war der Wissenschaft seit geraumer Weile bekannt, tauchte aber in keiner Statistik auf und ist bisher nicht erforscht. Die Fachbereiche Sozialpädagogik und Sozialarbeit entwickelten jetzt gemeinsam einen Fragebogen und arbeiteten Interviews aus. Fast auf Anhieb, durch das bloße Herumfragen im Bekanntenkreis, fanden sie knapp 40 GesprächspartnerInnen, die berichteten, wie sie „clean“ geworden sind. Die Ergebnisse der Berichte der vorwiegend Heroinsüchtigen liegen jetzt in einem 100seitigen Zwischenbericht vor. Die Wissenschaftler unter der Leitung von Prof. Dr. Hans Volker Happel kommen zu dem Ergebnis, daß die Selbstheilerquote keinesfalls geringer, sondern mindestens gleich hoch ist wie die Erfolge herkömmlicher Therapien. Laut Studie sei also das Bild vom unausweichlichen Tod durch Überdosis oder sozialem Verfall, das öffentlich von den Fixern gezeichnet werde, nicht zwingend. In ihren Fragestellungen stützen sich die Forscher vor allem auf amerikanische Untersuchungen, vor allem mit drogensüchtigen Vietnam–Heimkehrern. In den USA nämlich kam der Amerikaner Charles Winick schon 1962, nach einer Untersuchung von 7.234 Personen, zu dem Ergebnis, Heroinabhängigkeit sei „ein in sich selbst begrenztes Leiden, das auch bei langjähriger Drogenkarriere mit dem lebensgeschichtlichen Prozeß des Erwachsenwerdens überwunden werden kann“. Wie hoch die Rate der Selbstheiler tatsächlich ist, liegt im Dunkeln. Verschiedene Experten sie deln sie deshalb bei rund 70 Prozent der Süchtigen an, weil ihre Untersuchungen ergeben haben, daß ungefähr so viele Straffälliggewordene irgendwann nicht mehr in den Statistiken der Polizei auftauchen aber dennoch nicht verstorben sind. Dazu kommen noch die Süchtigen, die nie straffällig werden. Eine 20jährige Langzeitstudie in New York ergab, daß mehr als die Hälfte länger als fünf Jahre süchtig sein konnte, ohne daß sie je polizeilich in Erscheinung getreten war. Es ergibt sich in der Tat ein Rätsel: Wenn, wie die US–Studien behaupten, rund zehn Prozent der Fixer sterben, weitere 20 Prozent dauerhaft und ohne Unterbrechung über viele Jahre fixen, wo bleiben dann die restlichen 70 Prozent, die „nach Jahren massiver Abhängigkeit strafrechtlich nicht mehr in Erscheinung treten“? Werden sie zu „kontrollierten“ Gelegenheitsfixern, hatten Therapien Erfolg oder liegen Selbstheilungen vor? Bei allen Untersu chungsergebnissen ist auffällig, daß Zeit eine Rolle spielt. Je länger eine Personengruppe befragt wurde und je mehr Jahre seit dem starken Drogenkonsum vergingen, desto mehr waren abstinent geworden. Dazwischen liegen Phasen der Ambivalenz mit drogenfreien Phasen, Rückfällen und dem Gebrauch von legalen Medikamenten oder Alkohol. Ein „klarer Trennungsstrich“ zwischen Sucht und Abstinenz lasse sich nicht ziehen. Einige Ergebnisse sind verblüffend. 53 Prozent der untersuchten und therapierten Vietnam–Veteranen wurden clean, aber 83 Prozent Abhängige schafften es ohne Therapie. In einer anderen Gruppe lagen die Zahlen der „Entzogenen“ mit 52 Prozent Nichttherapierten und 50 Prozent Therapierten fast gleich. Allerdings erreichten nur 28 Prozent derjenigen, die mehrere Behandlungen absolviert hatten, dieses Ziel. Selbstheilung spielt sich möglicherweise in einem Zeitraum von rund zehn Jahren ab und kann verschiedene Triebfeder haben. Dazu gehören das schlichte Erwachsenwerden, Identitätsbildung, lebensgeschichtliche Krisen, Sinnfindung, eine Änderung der unsicheren Lebenssituation. Die Gründe zum Einstieg sind weniger vielfältig und meist im sozialen Umfeld vor allem Jugendlicher zu suchen. Sowohl beim Ein– als beim Ausstieg spielen Angst vor Strafe und Illegalität kaum eine Rolle. Die Autoren der Frankfurter Fachhochschule stellten mit Verwunderung fest, daß alle von ihnen herangezogenen Untersuchungen nicht auf die Schmerzen beim körperlichen Entzug eingehen. Sie vermuten, daß dies „eine Gegenreaktion zu der völligen Überschätzung der Bedeutung des Entzuges durch die in der Vergangenheit hauptsächlich mit dem Drogenproblem befaßten Mediziner“ sei. Sie vermuten weiter, daß ein freiwilliger Entzug, selbst wenn ein Rückfall folge, weniger demotivierend wirke als einer unter Zwang. Tatsächlich haben Wissenschaftler festgestellt, daß der Drogenkonsum bei gerade Therapierten oft besonders hoch ist. Das Forschungsprojekt der Fachhochschule soll ergeben, daß Selbstheilung nicht das Wunder ist, von dem die herkömmliche Suchtforschung bisher ausgeht: „Wir hatten die Gnade, bisher einigen Wundern begegnen zu dürfen.“ Die Kriterien für InterviewpartnerInnen: eine echte Heroinsucht über ein Jahr (mindestens fünf mal pro Woche), mindestens drei relevante Entzugssymptome beim Absetzen, mindestens dreimonatiger Konsum vor dem letzten Entzug und mindestens ein Jahr Abstinenz nach dem letzten Entzug und während dieser Zeit auch kein therapeutisches professionelles Programm. Interessierte Betroffene, die zu diesem Projekt beitragen wollen, können sich täglich von 10 bis 14 Uhr unter der Rufnummer 069/62345. Anonymität ist zugesichert.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen