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Drüben - ein Tag in der Hauptstadt der DDR

■ Berlin, Bahnhof Friedrichstraße: Für Grenzüberschreiter von West nach Ost oder umgekehrt ein Labyrinth von Räumen und Gängen, das erste Unsicherheiten weckt. Nach mühevollen Inspizierungen durch deutsche Gründlichkeit dann der Eintritt in den anderen Teil der Halbstadt - ein Ausflug in die Fremde beginnt

Von Jochen Visscher

Zwischen neun und zehn ist der Andrang am größten. Und das Wochenende sollte man meiden. Herüberzufahren bedeutet nach wie vor Zeitverlust und Anspannung, ganz gleich, in welche Richtung die Reise geht. Papiere, Anstehen, Warten, Kontrollen, daneben ein schwer zu unterdrückendes Unwohlsein, sind immer noch Alltag an dieser Grenze. Rentner mit blauen Pässen (DDR) wissen dies ebenso wie Pensionäre mit ihren grünen (vorläufigen) Personalausweisen. Ein Treffpunkt aller (legaler) Grenzüberschreiter ist der Bahnhof Friedrichstraße, dessen unübersichtliches Wirrwarr von Gängen und Räumen wohl ein gutgehütetes Geheimnis ist. Eigentlich steigt man nur um, von einer in die andere S–Bahn, aus Richtung Westkreuz in Richtung Ostkreuz. Zwischen beiden Bahnsteigen allerdings liegen jene mühevollen Inspizierungen, die üblich sind zwischen Staaten unterschiedlicher Weltanschauung, - Normalität vor dem Eintritt vom Feuer ins Wasser. Oder umgekehrt? Hier begegnen sich täglich DDR– Rentner, Berliner, Westdeutsche und Ausländer, mit Koffern und Taschen, mit Rucksäcken und mit Plastiktüten und zuweilen auch mit Aktenmappen. Die ständige Präsenz der Uniformierten gewährleistet rigoros die Ordnung in diesem stillen Treiben. Für Geübte ist sowieso alles nur Routine, Neulinge sind leicht an ihren unsicheren Blicken auszumachen. Ist das die richtige Schlange zum Anstehen? Links die Ausländer, rechts, j.w.d., die Berliner (West), dazwischen die anderen. Will man ein Tagesvisum, ein Transitvisum oder gar einige Tage bleiben? „Sagen Sie doch nicht immer aus dem Osten“ Eine nervöse Alte irrt suchend umher, sie findet sich überhaupt nicht zu recht. In beiden Händen Plastiktüten, vollbepackt, die sie kaum tragen kann. Dann fällt der Paß herunter. Das war es! Längst wartet schon jemand auf seinen Einsatz, der diese Szene aufmerksam beobachtet hat. „Wo wollen Sie denn hin?“ „Nach drüben“, antwortet sie scheu. Die Stimmung wird schlechter, die Stimme lauter: „Wo kommen Sie denn her?“ Und diese Antwort ist zuviel für ihn. „Sagen Sie doch nicht immer aus dem Osten! Sie sollten sich was schämen, Sie, als Bürgerin der DDR!“, wird sie in barschem Ton aufgeklärt. Sie ist vollkommen hilflos, aber die Uniform trotzt ihr ein verkrampftes Lächeln ab. Dann wird sie in die richtige Reihe eingewiesen. Alles ist ein bißchen komplizierter an der deutsch/deutschen Grenze. Auch Soldaten der DDR Grenztruppen haben ihre Schwierigkeiten mit dem jeweiligen Status deutscher Nachkriegsgebilde. Denn für sie sind Westberliner natürlich keine Westdeutschen, und BRDler auch keine richtigen Ausländer, aber davon hängt es schließlich ab, wie lange man bleiben darf, bis Mitternacht oder bis zwei Uhr früh. Und ob man schon vor sechs Uhr morgens wieder einreisen kann (wichtig für Liebende). Hat man die Formalitäten überstanden, fünf DM Visagebühr gezahlt und 25 DM in DDR–Mark zwangsgetauscht, dann öffnet sich die letzte, eiserne Tür zur Halle des S–Bahnhofs Friedrichstraße (Ost). Man betritt eine andere deutsche Welt, mit der die diessei tige wenig, nicht einmal die Sprache uneingeschränkt gemein hat. Hier sammelt man Kehricht in Behältern, die aussehen wie Mülleimer, man ißt Würzfleisch überbacken und vor allem Soljanka und lebt in vortapezierten Mehrraumwohnungen. Über allem schwebt ein seltsamer chemischer Geruch, der ständig Erinnerungen wachruft, in der Oper an die U–Bahn, auf der Straße an die von Toilettendamen so sorgsam gehüteten WCs. Die Zweitaktmotoren tun ein Übriges, um der typischen (Ost)Berliner Luft eine eigene Note zu geben. Nach wenigen Metern steht fest: ich bin in der Fremde, nur wenige Kilometer von zuhause entfernt. Von der Lust auf weltstädtisches Flair Die Friedrichstraße, einst bekannter Berliner Bummel– und Amüsierboulevard, genügt heute weltstädtischen Ansprüchen kaum. Noch nicht. Denn man hat Großes vor! Diese „weltbekannte Magistrale“ (Zitat aus der Neuen Berliner Illustrierten) soll neu entstehen, 3.000 Wohnungen, 150 Geschäfte und Gaststätten mit 6.000 Plätzen sind geplant. Bereits fertiggestellt sind Friedrichstadtpalast und seit kurzem das exklusive „Grand–Hotel“ an der Ecke Behrenstraße. Nobelkutschen aus Stuttgart mit West– und Ostkennzeichen vor dem Portal geben zu denken. Gebaut für die „ständig steigende Zahl internationaler Gäste der Hauptstadt“, was nichts anderes heißt, als daß hier in Valuta gezahlt werden muß (bis zu 2.800 DM für die eleganteste Suite) oder: nicht für Bürger der DDR. So kleben sie mit ihren plattgedrückten Nasen an den Glasscheiben und bestaunen das prächtige wie stillose Interieur dieses Komplexes, sicher nicht ohne Hintergedanken und nicht ohne Groll. Jüngst wieder errichtet wurde das Viertel rund um die Nikolaikirche. Hier steht den angsteinflößenden Hochhausfluchten der Leipziger Straße und der trostlosen Steinwüste des Alexanderplatzes ein vollkommenes Kleinod postmoderner DDR–Architektur gegenüber. Das urbane Zentrum einer 1,2 Mio. Metropole ist einfach gemütlich, ähnlich wie die Drosselgasse in Rüdesheim. Über Geschmack läßt sich streiten, doch immerhin bieten sich hier eine Menge gastronomischer Möglichkeiten, vom Kaffeehaus bis zur Bierpinte. Für viele hoffentlich auch Gelegenheit, dem läsigen Warten und Plaziertwerden aus dem Wege zu gehen. Das Preisniveau ist gehoben und für DDR–Verhältnisse sogar teuer. Dafür ist die Qualität gut, die Bedienung nicht selten ausgesprochen freundlich. So ist es also wahr, daß Lebenslust doch kein Fremdwort ist. Überall nimmt die Lust auf Unterhaltung zu, steht weltstädtisches Flair auf den Fahnen der Städteplaner. Später zieht es mich hinaus zum Prenzlauer Berg. Ich bestaune die frisch restaurierten Fassaden am Käthe–Kollwitz–Platz ebenso wie den abbröckelnden Rest dieses Bezirks. Schließlich lockt die Schönhauser Allee, die „heimliche“ Hauptstraße Ost–Berlins, in der die Atmosphäre authentischer, die Preise niedriger und die Auswahl geringer ist. Nur allmählich hält der Fortschritt in Form von Modernisierung und Farben Einzug. Das gerade renovierte Wiener Cafe hat seinen Ruf als Treffpunkt längst verloren, höre ich, aber dafür gibt es mittlerweile eine Reihe neuer „Tips“. Nur welche? Zum Mittag gibt es Hühnerfrikassee für 6,78 Mark. Einige leere Tische sind reserviert, also setze ich mich zu zwei Damen. Die eine hat Ärger mit ihrem Trabi, der Benzin verliert, mehr als die halbe Tankfüllung im Laufe des Vormittags. Sie lebt in Marzahn, einem Trabantenbezirk weit draußen. Deutsch–Deutsches bei Hühnerfrikassee Ein Jahr alte Zweiraumwohnung, vortapeziert (Muster „Häuserecken“), und von der Decke frißt sich eine unheimliche Säure in die Möbel. Materialfehler wurden festgestellt und nun bangt jeder um die Wohnung, weil niemand weiß, wie man das Problem lösen will. „Ich hasse den Westen, wissen Sie“, sagt sie plötzlich zu mir. Ich bin überrascht. Soll ich sie fragen, warum. Aber sie erzählt von selbst. Ihr Sohn wurde kurz nach dem Abitur bei einem Fluchtversuch in der CSSR erwischt, kam danach ins Zuchthaus unter schlimmen Bedingungen, wurde ausgetauscht und ist inzwischen Fernfahrer in Hamburg. Fünf Jahre keinen Kontakt, bis auf einen kurzen Besuch vor wenigen Wochen, als er während eines ungestümen Eintagetrips sein neues Auto vorstellte (im Wert von zigtausend Mark). Mehr hatte er nicht gewollt. „Früher war mir das egal mit der Mauer, ich kannte niemanden drüben, und jetzt ..., er ist mir fremd“, sagt sie. Jetzt überwiegt die Angst, daß ihre jüngere Tochter irgendwann auch nach drüben möchte. Weil sie das verhindern will, muß sie sich entscheiden. „Es tut weh“, fügt sie leise hinzu, doch dann überwiegt die Sorge um den leckenden Benzintank. Den nächsten Werkstattermin hat sie erst im Januar. Nachmittags lockt das alte Zentrum. Ein Spaziergang unter den Linden ist obligatorisch. Die Knobelsdorff Oper, Humboldt Universität, die Museen auf der Spreeinsel, natürlich auch das Schauspielhaus und der Französische Dom am Platz der Akademie sind sorgfältig restauriert worden. Hier sind lebendige Erinnerungen an das historische Berliner Stadtbild möglich. Nur das Schloß fehlt. Friedrich II. schaut heute auf den Palast der Republik, vorbei an den aus West–Berlin zurückgekehrten Schinkelfiguren der Marx–Engelsbrücke (ehemals Schloßbrücke). Sie werden von wuchtigen hellen Granitblöcken getragen, so daß sie trotz ihrer Größe fast zierlich wirken. Gar nicht weit davon entfernt, hinter der Sankt Marien Kirche, steht der alles überragende Fernsehturm, wegen seiner unübersehbaren Höhe fast so etwas wie ein Gesamt– Berliner–Orientierungssymbol. Unterhalb des Betonstochers befindet sich einer der unauffälligen Treffpunkte des Berliner Ostens. Wie in der gesamten Umgebung feiert auch hier das verlebte Design der frühen Siebziger Erntedankfeste. Bei Roger Whittaker und Elvis Presley oder aktueller RIASII Musik auf Alusesseln mit braunen Bezügen entspannen sich bunte Träume individueller Freiheit, wenn die Szene hinter transparenten Pflanzenkübeln mit behaglichem Zimmergrün ihre erstaunlichen Möglichkeiten stofflicher Selbstentfaltung vorführt. Im dunklen, verrauchten Braun hat sich eine farbige Mischung vornehmlich in Schwarzweißtönen breitgemacht, die neben viel Jugend jede Menge improvisierter Originalität bieten kann. Gesprochen wird wenig, freie Plätze sind begehrt. Bei Club–Cola insistiert Ost–Berlins Jugend farbige Eigenständigkeit. Hüben wie drüben gilt wohl: Sehen und gesehen werden. Berlin macht müde. Mit der S– Bahn geht es zurück zum Grenzübergang, durch die nächtliche Stadt im halbleeren Wagon. Die „Hauptstädter“ gehen früh schlafen. Die Mauer im Kopf Die Menschen in dieser Stadt haben sich arrangieren müssen mit den Folgen des Krieges, mit der Grenze, mit den politischen Verhältnissen. Das war auf der anderen Seite nicht anders. Und weil sie Deutsche sind, haben sie das mit bewundernswerter Gründlichkeit gemeistert. Hier wie dort ist ein ungeliebter Status quo, so sehr er auch der Moral und der Vernunft widersprechen mag, längst gutorganisierte Normalität geworden. Trotz visueller Präsenz des jeweils anderen Teils der Stadt ist diese Mauer unbestritten Sinnbild einer ebenso unzulänglichen wie umfassenden gegenseitigen Distanzierung. In Berlin muß sich das nicht widersprechen. Der Aufprall zweier 750–Jahrfeiern hat das jüngst ebenso eindrucksvoll wie peinlich bewiesen. Deutsch/Deutsch–Annäherung ist nicht selten von Mißtrauen und Fremdheit geprägt. Der Umgang miteinander ist unsicher. Das Stigma wird nicht allein durch die Mauer symbolisiert, es hat sich längst in den Köpfen der Geteilten festgesetzt. Vielleicht ist es sogar das Trennende, was überhaupt Möglichkeiten zum Gemeinsamen gibt. Und wer wäre wirklich eines Tages fassungslos, wenn Prenzlauer Berg und Kreuzberg eine innige Bezirkspartnerschaft anstrebten. Gäste, die gehen, sind oft die liebsten. Im Hintergrund strahlen die hellerleuchteten Fenster eines Anbaus, - der Bahnhof Friedrichstraße erwartet die Rückkehrer. Auf dem Fußweg davor küssen sich Liebende zum Abschied, beklopfen sich Verwandte freundlich die Schultern. Einige geben sich nur die Hand. Bahnhöfe haben überall etwas mit Trennung zu tun. Es ist kurz vor Mitternacht. Die Abfertigung läuft zügig und die Beamten sind freundlich, denn bald ist Dienstschluß. Auffallend viele Besucher reisen mit intensiven Alkoholfahnen zurück. Manche sind mutiger als morgens, riskieren ein paar humorlose Späßchen, an denen niemand Vergnügen findet. Abschied von einer fremden Stadt, einer fernen Welt, die ganz nah vor der Tür liegt. Ein Berliner Kuriosum. Aber nur keine Sentimentalität zum Schluß. Hüben und drüben, da wird ohnehin zu wenig gelacht.

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