: Literaturnobelpreis für Joseph Brodsky
■ Der in den USA lebende russische Lyriker Joseph Brodsky erhielt den diesjährigen Literaturnobelpreis. Aus Anlaß der italienischen Ausgabe von Brodskys Essays, die er englisch schreibt, portraitierte der italienische Literaturkritiker Pietro Citati den Autor.
Bei der Lektüre von Joseph Brodskys wunderschönen Aufsätzen ergreift uns ein seltenes Gefühl der Verwirrung und der Bewunderung. Neben Brodsky oder Siniavskij kommen wir uns vor wie Kinder. Nicht nur, weil im Westen heute niemand Aufsätze von der Intensität und der Eleganz der Brodskys komponiert, sondern auch, weil die Erfahrung, die in seinen Büchern reflektiert wird, eine Tiefe, eine Weite, eine Komplexität zu haben scheint, wie wir sie in unseren geordneten Leben niemals kennengelernt haben. Nutzt der Schrecken der Literatur? War Stalin ein Brutkasten junger Genies? Literatur bedarf der Kenntnis des Bösen, der Abgründe, des Extremen. Literatur wird von der Tragödie genährt; und von jenem Lächeln, das nur dort aufscheint, wo die Tragödie jede Grenze überschritten hat. Brodsky der Causeur, der erste unter den Hofessayisten. Hinter den Ideen erkennt man, daß er uns unterhalten möchte; und darum wechselt er von Thema zu Thema, umwirbt die unterschiedlichsten Ideen, um sie dann liegen zu lassen, redet vor sich hin - und manchmal, wie in seinem letzten Essay, führt er die Anstrengung bis zum letzten, leidet und läßt leiden und dann, mit leichter Hand, löst er die Spannung auf und bleibt still in einer Ecke stehen. Aber wenn wir seinen leichten Worten genau nachhören, dann schwindet das Echo des Gesprächs: Was Brodsky vor uns aufgezeichnet hat, mit Pausen und bewegten Stellen, ist eine musikali sche Form - eine Sonate wie solche von Heiden oder Schumann. Er weiß, der „Essay“ muß ein beweglicher und farbiger Spiegel sein, der vor das Ich des Autors gestellt wird oder vor jenen geheimen Punkt, an dem er und die Ideen einander begegnen. Wie wandelt sich Brodskys Haltung! Eben noch gibt er jeder Laune nach, jetzt satirischer Furor, dann Verzauberung, Schmerz, Melancholie, nun ein Gogolsches Lachen oder ein Scherz, wie er Alice im Wunderland gefallen würde, dann Leidenschaft, eine elegische Stimmung: Aber immer, immer mit der ganzen Spannung seiner Intelligenz. Wichtig ist in diesen Essays ihr Tempo, ihre Beschleunigung, die psychisch–intellektuelle Euphorie. Eben noch versucht Brodsky sich im blitzenden Dunkel des Aphorismus, jetzt konzentriert er, wie alle großen Kritiker, Baudelaire, Proust oder der anonyme Autor von „De Sublime“, eine hochkomplexe intellektuelle Analyse, ein Netzwerk detailliertester Beobachtung, in einem einzigen plastischen Bild. Er beklagt die Kargheit seines Instrumentariums. Er ist Russe, seine Sprache wird um ihrer Flexibilität psychologischen Differenziertheit, ihrer Sinnlichkeit willen bewundert und er muß sich in dem ärmlichen Englisch der Professoren von Harvard und Neu Delhi ausdrücken - ein Vokabular von 400 Wörtern mit Sätzen, die nicht über 1 1/2 Zeilen reichen. Aber der Reiz seiner Prosa rührt gerade daher. Er ergreift diese verarmte Sprache: lädt sie auf mit Leidenschaften, Phantasie, Wahnsinn, Geschwindigkeit und Feuer und läßt so zwischen einer Verkürzung und der anderen die Erinnerung und das Bild jener großen verlorenen Sprache der Prosa Puschkins, Gogols und Mandelstams aufscheinen. In seinen Essays spricht Brodsky über alles: Literatur, Geschichte, Politik, sein Leben und über die Welten, die unsichtbar unsere Welt umkreisen. Über alles spricht er, nicht weil es ein Privileg ist, das ihm sein Beruf als Literat verschafft, sondern nur, weil er ein ungeheuer intelligenter Mann ist, der sich auf beinah alles versteht. Er spricht über Dichtung und er weiß, was wertvoll ist in Mandelstam, Auden, Yeats oder Dylan Thomas. Es ist nicht das, was einige Stil nennen, sondern das innere Tempo, der hämmernde Rhythmus, der angstvolle Herzschlag. Er spricht immer von Leningrad und immer zuerst von ihm. Die Stadt der Wunder: kein Versuch Rußlands, den Westen zu erreichen, sondern Europas Kultur eingefaßt in eine Laterna Magica, die sie projiziert, die Einzelteile vergrößert auf riesigen Leinwänden aus Erde und Wasser. Die klassischen Porticus mit ihren Säulen und den Häuptern aus Gips, die mythischen Tiere oder Personen verkörpern, mit Dekorationen und den Kariatyden, die die Balkons tragen und die Torsi, die in den Nischen der Höfe aufgestellt wurden. Leningrad im Januar, klamm und schwach die Sonne, die mit flüssigem Gold die Jalousien der Paläste bemalt und der frierende Wanderer, der die Neva überquert und entdeckt, was Peter der Große im Auge hatte, als er diese Mauern bauen ließ - einen gigantischen Spiegel für einen einsamen Planeten. Petersburg während der weißen Nächte, wenn man nachts um zwei ohne Lampe lesen kann und die schattenlosen Paläste aussehen wie ein Service aus Meißner Porzellan und das transparente Rosa des Himmels so zart ist, daß das schillernde Aquarell der Newa es nicht reflektiert. Aber da ist auch das Gesicht Lenins, das wie Kathrine Mansfield sagte, „Einer riesigen Wanze „ ähnelt, die jedes Schulbuch beschmutzt, jede Wand, jede Briefmarke, jede Münze. Lenin, mit seiner Ballonmütze, mit der Nelke im Knopfloch, im Hausrock in seinem Arbeitszimmer oder mit der paramilitärischen Jacke, sitzend auf einer Bank im Garten, an seiner Seite Stalin. Das ist Sowjetrußland - das Reich bitterer Wiederholung. Das Büro des Vorsitzenden wie das Polizeirevier: Die gleichen Holzbretter, die gleichen Schreibtische, die gleichen Stühle, die gleichen Bilder - und in Augenhöhe die blaue horizontale Linie, der man unfehlbar begegnet in Krankenhäusern, in Fabriken, in den Wohnungen des ganzen Landes wie der Strich eines unendlichen gemeinsamen Nenners. Trotz des schrecklichen Feuers, in dem fast alles verloren ging, ist Brodsky ein außergewöhnlicher Optimist. „Ob es uns Spaß macht oder nicht, wir sind hier, nicht um zu lernen, was die Zeit dem Menschen antut, sondern was die Sprache der Zeit antut“. Also ist nichts geschehen? 70 Jahre historischen Wahnsinns und Schreckens weichen 14 Strophen eines Gedichts, das ein Unbekannter 32jähriger aus Leningrad auf Schmetterlinge geschrieben hat? Schon lange haben wir so tröstende Worte nicht mehr gehört. Dahinten, in der klaren Dunkelheit hinter uns (nicht in der nebligen und leeren Zukunft), da existieren alle Gedanken, Gefühle, Phantasien, Leidenschaften und Bilder, die wir brauchen. Mehr benötigen wir nicht. Diese Vergangenheit ist unvollendet: Die Gedichte, Romane, philosophischen Traktate, Essays blieben halb vollendet, als hätte die menschliche Intelligenz sie liegengelassen ohne sie abzuschließen. So schreiben wir also, wenn wir schreiben, nur das, was war. Wir wenden uns der Vergangenheit zu nicht wie jene Schriftsteller, die Frankreich Ende des letzten Jahrhunderts bevölkerten - voller Gelehrsamkeit, Melancholie und Trauer. Die Vergangenheit muß noch sein, die Vergangenheit ist unsere Zukunft. Darum bewegen wir uns auf sie zu und springen sie an mit Begeisterung, Frische, Gewalt, voller Glück und in jener freudigen Eile, mit der wir zu Rendezvous mit Unbekannten gehen. (Leider sehr stark gekürzt) Brodsky auf Deutsch: Einem alten Architekten in Rom, Piper 12,80 DM Erinnerungen an Leningrad, Hanser, 26 DM Römische Elegien und andere Gedichte, Hanser 26 DM
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