: Glasnost im Kampf für mehr Glasnost
■ Seit dem 1. Juni erscheint in Moskau eine unabhängige Zeitschrift mit Namen Glasnost / Stößt Glasnost an die Grenzen von Glasnost?
Von Susanne Mais
Berlin (taz) - Als Sergej Grigorojanz am letzten Freitag verhaftet wurde, bedeutete dies einen schweren Schlag für Glasnost. Seit der ehemalige politische Gefangene am 1. Juni begann, zweimal im Monat eine eigene Zeitung mit diesem Titel herauszugeben, die mühsam zusammen mit Freunden in einer Auflage von 70–80 Exemplaren per Schreibmaschine und mit Durchschlägen hergestellt wurde, rissen die „Widerstände“ nicht mehr ab. Grigorojanz bat um die offizielle Registrierung der Zeitung bei den zuständigen Stellen. Doch der 1. Stellvertreter des staatlichen Komitees für Verlage (Gosmisdat), D.F. Mamleev, erklärte ihm, daß alle offiziell zugelassenen Druckerzeugnisse staatliche und gesellschaftliche Organisationen verträten. Glasnost aber würde niemanden vertreten und könne damit auch nicht registriert werden. Aber immerhin ließen die Behörden die Zeitungsmacher gewähren. Erst am 1. Oktober wurde es ernst. Zwei Mitarbeiter mußten sich verhören lassen. Die gesamte Auflage der Nummer acht wurde beschlagnahmt. Am nächsten Tag griff die große Nachrichtenagentur TASS die kleine Zeitung an: Sie habe sowjetische Publikationsgesetze verletzt und sich staatlicher Materialien für die Produktion bedient. Daß Nummer acht sich mit der sensiblen Nationalitätenfrage beschäftigte, wurde bei TASS nicht erwähnt. Um beurteilen zu können, ob Glasnost tatsächlich so gefährlich wie behauptet ist, lassen wir die Zeitung für sich selber sprechen: „Es ist noch nicht lange her, daß über die Umgestaltung nur wenige sprachen... Die Führung des Landes ist es aber, die sich für eine Politik entschiedenen Wandels ausgesprochen hat...doch der Prozeß des Wandels verläuft nicht einheitlich...Seine passiven mächtigen Gegner sind gesellschaftliche Gleichgültigkeit, die fehlende Routine demokratischen Denkens. ..Es ist kein Geheimnis, daß die Politik des Wandels auf den starken Widerstand im politischen und Wirtschaftsapparat trifft, die direkt oder indirekt die jetzige Situation herbeigeführt haben .....Das Gefühl und die Überzeugung, d und Materialien zu den wichtigsten gegenwärtigen Problemen veröffentlichen... Unabhängige Zeitungen sind in unserem Lande notwendig, da alle Presseorgane ein Teil eben jenes politischen, administrativen oder ökonomischen Apparates sind, der bei weitem nicht tadellos arbeitet... Nur ein Mittel gibt es, um die Umgestaltungen im Lande zu unterstützen: Sie in Wort und gesellschaftlichem Bewußtsein zu stärken, sie zu objektivieren. Wahrheit ist eine gesellschaftliche Errungenschaft.“ Und so kümmern sich die Moskauer Blattmacher um die Geschichte, die StalinZeit, die Nationalitätenfragen, die unabhängigen Gruppen und deren Erklärungen, Kulturberichte, die Wirtschaftsreform, um Menschenrechtsfragen und die Rechtsreform. Der Abdruck von Leserbriefen hat schon eine intensive Diskussion der Leser eröffnet. Doch ob die nächste Nummer von Glasnost erscheinen darf, steht noch in den (roten) Sternen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen