: Referendum: Zwei Gretchenfragen für Lech Walesa
■ Die Volksabstimmung zur Wirtschaftsreform bringt Solidarnosc in eine schwierige Lage: kann sie sich ein Abwarten leisten? / Die Bevölkerung mißtraut dem Reformwillen der Regierung / Die sozialen Folgen der Reform machen authentische Gewerkschaften notwendig / Eine Replik auf Adam Michnik
Von Christian Semler
„Das Schlimmste“, sagte kürzlich eine Freundin in Warschau, „ist nicht der reale Sozialismus, sondern der fiktive Kapitalismus im realen Sozialismus.“ Sprachs und hetzte zur Arbeit in einem privaten Unternehmen, von dem fraglich ist, ob Geld und Nerven der Gründer ausreichen werden, die Vorbereitungsphase zu überstehen. Unternehmungslustige Naturen, darunter viele ehemalige Aktivisten von Solidarnosc, schließen sich jetzt zu Genossenschaften zusammen oder gründen Einzelfirmen. Der Drift aus dem unterbezahlten öffentlichen Dienst, aus Universitäten, Forschungsstellen und Schulen ist nicht zu übersehen. Ebenso unübersehbar ist freilich, daß die Lebensfähigkeit des privaten Sektors von einer Wende der gesamten Ökonomie abhängen wird. Die Wende zu vollbringen, ist jetzt die polnische Regierung mit ihrer zweiten Etappe der Wirtschaftsreform angetreten. Die Ziffer Zwei hat für nicht wenig Spott gesorgt. Denn die erste Etappe war 1981 und war mit Soli darnosc und ihrer Idee eines Dialogs zwischen Gesellschaft und Staatsmacht verbunden gewesen. Wie soll mit den damaligen Zielen der Reform ernst gemacht werden, wo doch der Gesprächspartner, Solidarnosc als Massenorganisation, verboten ist? Die Regierung ist sich im klaren darüber, daß die Verwirklichung der Reform die Beteiligung der Arbeiter verlangt. Sie ist aber nicht bereit, Solidarnosc wieder zuzulassen. Der Ausweg, auf den Jaruzelski jetzt verfallen ist, besteht aus einem Mosaik von Demokratisierungsofferten: Stärkung der betrieblichen Selbstverwaltung, Konsultativräte auf nationaler und regionaler Ebene, Änderung des Versammlungs– und Vereinsrechts und Legalisierung von Publikationsprojekten. Für die am 29. November anstehende Volksabstimmung hat die Regierung zwei entsprechende Fragen ausgetüftelt. Die erste Frage bezieht sich auf die Wirtschaftsreform. Ein Zusatz (“auch wenn dies eine schwierige, zwei bis drei Jahre dauernde Periode rascher Veränderungen erfordert“) weist ausdrücklich auf die Mög lichkeit von Teuerungen, verschärfter Arbeitsintensität und drohenden Arbeitsplatzverlusten hin. Nach dieser Peitsche folgt das Zuckerbrot: Sprichst du dich für tiefgreifende Demokratisierung des politischen Lebens aus, dessen Ziel die Stärkung der Selbstverwaltung, die Erweiterung der Bürgerrechte und mehr Teilhabe der Bürger an der Regierung des Landes ist? Walesa wartet ab Die Opposition hat sich am vergangenen Samstag auf ein Ignorieren des Referendums verständigt. Unterhalb einer Wiederzulassung von Solidarnosc gibt es für sie nichts zu akzeptieren. Es ist das Verhalten von Partei und Regierung im Vorfeld der „zweiten Reformphase“, welches die Skepsis von Walesa zumindest verständlich macht. Tatsächlich verbergen sich die Probleme des Referendums im Detail. Erstes Beispiel: der Konsultativrat. Die Regierung war bisher weder bereit, die Befugnisse des Rates zu präzisieren noch anzuerkennen, daß die Ratsmitglieder von den gesellschaftlichen Gruppen ausgewählt wer den müßten. Als es offensichtlich wurde, daß Jaruzelski lediglich einige prominente Katholiken als Vorzeigeobjekte versammeln wollte, zog sich die Mehrzahl der Auserwählten zurück. Zweites Beispiel: die Selbstverwaltung. Noch 1986 versucht dieselbe Regierung Messner, die jetzt von der Stärkung der Selbstverwaltung spricht, ihr in elf Gesetzesnovellen den Todesstoß zu versetzen. Es scheiterte am Widerstand der Arbeiterräte und eines Teils der Partei. Die bestehenden Ansätze sind in Gefahr, durch Übertragung von Kompetenzen an die staatlich lizensierten Gewerkschaften ausgehöhlt zu werden. Erst in jüngster Zeit waren Betriebe, die über starke und unabhängige Selbstverwaltungen verfügten, als kriegswichtig erklärt worden und damit, etwa bei der Wahl des Direktors, dem Einfluß der Belegschaft entzogen worden. Kann der unverbindlichen Versicherung der Regierung vertraut werden, sie werde die Zahl der „strategischen“ Betriebe auf 400 reduzieren? Das Referendum bringt auch Solidarnosc in eine schwierige Lage. 1981 hat sie die Grundzüge der ökonomischen Reform, die jetzt in Angriff genommen werden soll, gebilligt. Ihre eigenen Vorstellungen gingen, was die Radikalität des Einschnitts in Richtung Markt betrifft, noch über die gegenwärtigen Projekte hinaus. Folglich wäre sie in der Lage gewesen, die Senkung des Lebensstandards infolge der Reform sozial abzusichern. Die abwartende Haltung von Solidarnosc birgt die Gefahr, daß sich die Ablehnung von Partei und Regierung durch die Bevölkerung mit politischer Apathie und Resignation verbindet. Angesichts von Erscheinungen von gesellschaftlicher Entsolidarisierung müßte die Opposition jetzt Verantwortung übernehmen. Kann man daraus schließen, wie Adam Michnik im Spiegel nahelegt, daß die polnische Machtelite zu einer wirklichen Veränderung nicht fähig ist? Er untermauert diese Ansicht mit der These, daß Jaruzelski auf ein Scheitern des Reformkurses Gorbatschows spekuliere und stellt der reformrhetorik der Regierung den Papst entgegen, der „zu allen Polen und in deren Namen sprechend“ das Recht auf das „Subjektsein“ der Gesellschaft einfordert. Das Problem Michniks besteht darin, daß er das Bild einer homogenen polnischen Gesellschaft vor Augen hat, deren Werten nur zum Durchbruch verholfen werden müsse. Dieser Gesellschaft stehe Jaruzelskis Gruppe gegenüber, die fest entschlossen sei, ihren Machtanspruch ohne Abstriche aufrechtzuerhalten. Doch die polnische Gesellschaft ist trotz gemeinsamer (katholischer) Wertorientierung tief gespalten, und die nur wirtschaftlichen Reformen werden diese Gräben noch vertiefen. Die Opposition kann dieses Problem nicht „ignorieren“. Und noch ein weiteres: Wie kann Michnik sich für die Legalisierung von Zeitungsprojekten, für die Anerkennung politischer Klubs oder die Mitarbeit in der betrieblichen Selbstverwaltung einsetzen, wenn er davon überzeugt ist, daß die Regierung kein Zipfelchen der Macht zu lassen bereit ist? Er muß sich fragen, ob die polnische Gesellschaft sich ein Scheitern der Wirtschaftsreform, die in jedem Fall anlaufen wird, leisten kann.
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