Rudolf Schottlaender tot

■ Der 87jährige Philosoph und Altphilologe starb in Ost–Berlin / Ungeliebt in beiden deutschen Staaten

Berlin (taz) - Einem stets realitätsbezogenen und unvoreingenommenen Denken verpflichtet, wurde Schottlaender, der das Dritte Reich als Jude in einer sogenannten privilegierten Mischehe überlebt hatte, zum Grenzgänger zwischen beiden deutschen Staaten: Den Philosophielehrstuhl an der Dresdener TH verlor er bereits 1949 nach zweijähriger Tätigkeit wieder, weil er sich nicht zum Marxismus bekannt hatte. Er zog in seine Geburtsstadt Berlin zurück und wurde in Hermsdorf Lateinlehrer. 1959 belegte ihn der westberliner Senat mit Berufsverbot. Schottlaender wurde wegen seines jahrelangen Kampfes gegen Atomtod und Wiederaufrüstung „kommunistische Agitation“ vorgeworfen. In dieser Situation berief ihn 1960 die ostberliner Humboldt–Universität auf den Lehrstuhl für klassische Philologie. Nach dem Bau der Berliner Mauer zog Schottlaender nach Ost–Berlin, wo er bis zuletzt ein für die Staatsgewalten unberechenbares Ferment der politischen Auseinandersetzung blieb. Er ist durch eine große Zahl philosophischer und philologischer Arbeiten hervorgetreten. Darunter die „Theorie des Vertrauens“ (1957), ausgezeichnete und häufig verwendete Bühnenübersetzungen griechischer Tragödien und das Gedenkwerk „Verfolgte Berliner Wissenschaft“, das, nachdem es 25 Jahre ungedruckt blieb, in Kürze in der westberliner Edition Hentrich erscheinen wird. Es beschreibt wie die deutsch–jüdische Kultur in den Jahren 1933–1945 für immer ausgerottet wurde. (Eine ausführliche Würdigung erscheint in unserer Freitagsausgabe.) Götz Aly