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INTERVIEWAIDS-Marshall-Plan für Dritte Welt

■ Jon Tinker, Direktor des „Panos“-Instituts, das sich vor allem mit der AIDS-Epidemie in den Ländern der Dritten Welt beschäftigt, zu den Möglichkeiten globaler Strategien

taz: Nachdem die Chance für eine rechtzeitige und angemessene Reaktion auf die Bedrohung durch AIDS in vielen Ländern verschlafen worden ist, könnte man nach diesem dreitägigen AIDS-Gipfel den Eindruck gewinnen, alle 146 anwesenden Staaten hätten sich über Nacht zu Musterschülern der WHO entwickelt. Ist das alles Konferenz-Rhetorik, oder hat sich hier wirklich das Denken verändert?

Jon Tinker: Es gibt keinen Zweifel, daß sich die globale Reaktion auf die Krankheit sehr verändert hat, nicht zuletzt dank der ausgezeichneten Führungsrolle der WHO. Obwohl sich einige Regierungen genau in die falsche Richtung bewegen, hat sich das Verhalten der meisten Regierungen, in Industrieländern wie in den Staaten der Dritten Welt, über einen längeren Zeitraum betrachtet, sehr zum Positiven entwickelt. Einige Länder, wie zum Beispiel Großbritannien, haben in Sachen AIDS-Politik sogar binnen allerkürzester Zeit eine dramatische Kehrtwendung vollzogen.

Trotzdem gibt es aber in einer ganzen Reihe von Ländern Zwangstests bei der Einreise, Isolation von AIDS-Kranken, Diskriminierung von Virus-Trägern und besonderen Risikogruppen?

Aber unter all denen, die professionell mit der Bekämpfung von AIDS zu tun haben, hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß sämtliche Maßnahmen, die zur vermeintlichen Kontrolle der Krankheit die Freiheit von Virus-Träger beeinträchtigen, kontraproduktiv sind, von der moralischen Frage einmal ganz abgesehen.

Ihr Institut arbeitet gerade an einer Studie zu diesem Mechanismus der Schuldzuweisung in bezug auf die AIDS-Epidemie. Können Sie dazu schon Vorläufiges äußern?

Es gibt nicht eine, sondern drei verschiedene AIDS-Epidemien: Die unsichtbare Infektion mit dem Virus, die seit 10-15 Jahren rasch fortschreitet. Es gibt die sichtbare Epidemie von AIDS-Fällen, die sieben bis zehn Jahre hinter der ersten Epidemie herhinkt. Und es gibt eine Epidemie der Schuldzuweisung, Stigmatisierung und Diskriminierung, die in fast allen Ländern der Welt zu beobachten ist. Wir haben eine Menge von Anzeichen dafür gefunden, daß diese Spirale gegenseitiger Schuldzuweisungen Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus behindert. So besteht zum Beispiel kein Zweifel daran, daß die Perzeption in den afrikanischen Staaten, daß sie von den USA und Europa für die Verbreitung des Virus verantwortlich gemacht werden, die AIDS-Bekämpfung in diesen Ländern zurückgeworfen hat; daß diese Sichtweise dringend notwendige Maßnahmen der dortigen Regierungen um ein bis zwei Jahre verzögert hat und heute immer noch Probleme aufwirft.

Sie haben geschrieben, AIDS entwickle sich immer mehr zu einer Krankheit der Armen, weil den Entwicklungsländern, besonders in Schwarzafrika, die Ressourcen und die medizinische Infrastruktur zur effektiven Aufklärung und Bekämpfung der Epidemie fehlen. Wäre eine Art internationaler Marshall-Plan zur AIDS-Bekämpfung für diese Länder eine Lösung?

Ihre Analogie zu dem Marshall-Plan ist sehr passend, wo doch George Kennan damals ausdrücklich darauf bestanden hat, daß die Verteilung der Gelder Sache der Europäer bleiben müsse. Die Frage nach der Bereitstellung zusätzlicher Mittel für diese Staaten müssen wir uns bald stellen. Dabei muß aber die delikate Balance zwischen dem Vorschlagen von Programmen und dem Warten, bis die Leute in den Ländern entscheiden, was zu tun ist, gewahrt bleiben. Denn wenn die Versuche, diese Staaten zur Behandlung des Problems zu drängen, zu weit gehen, dann entstehen Ressentiments und das Gefühl, Sie wollten die sexuellen Gebräuche kritisieren, die Leute der Immoralität beschuldigen usw., und die ganze Sache wird wieder um Monate zurückgeworfen. Es gibt keine Alternative zur WHO-Strategie, es den Regierungen dieser Länder zu überlassen, was zu tun ist.

Was halten Sie für das wichtigste Resultat dieses AIDS-Gipfels?

Diese Konferenz war ein sehr wichtiger Teil im Aufbau eines internationalen Konsens in der AIDS- Bekämpfung, was Zeit braucht. Doch der wohl wichtigste Aspekt ist, daß hier in London viele Regierungen aus der Dritten Welt bemerkt haben, daß andere Dritte Welt-Länder die gleichen Probleme, die gleichen Schwierigkeiten haben und zu ähnlichen Schlußfolgerungen kommen. Zum Beispiel gibt es in vielen dieser Staaten einen starken Widerstand der Kirche gegen öffentliche Aufklärungskampagnen, die Kondome empfehlen. In Uganda, Ruanda, Brasilien und Costa Rica dagegen haben die Regierungen es geschafft, die Kirche zur Zusammenarbeit zu überreden. Die Erkenntnis, daß solche Übereinkünfte möglich sind, ist sicher hilfreich.

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