: Demjanjuk – Bedeutung und Ablauf eines Prozesses
■ Im Demjanjuk-Prozeß ist das Plädoyer des Staatsanwalts beendet / Interview mit Professor Dr. Wolfgang Scheffler vom Zentrum für Antisemitismus-Forschung an der Technischen Universität Berlin und Gutachter im Demjanjuk-Prozeß
taz: Der Demjanjuk-Prozeß ist oft mit dem Eichmann-Prozeß in den sechziger Jahren verglichen worden. Ist dieser Vergleich legitim?
Wolfgang Scheffler: Dieser Vergleich ist völlig unstatthaft. Eichmann war seiner Funktion nach ein hochrangiger Kopf der „Endlösung“, während Demjanjuk als kleiner Hilfswilliger in deutschen Diensten stand, in die Vernichtungsmaschinerie hineingeriet und an einer bestimmten Stelle eine bestimmte Funktion ausgeübt haben soll. Das sind völlig unvergleichbare Dinge.
Im Plädoyer der Staatsanwaltschaft in Jerusalem heißt es, Demjanjuk sei am Tod von Hunderttausenden von Juden während der Nazi-Herrschaft schuldig.
Das müssen Sie in der juristischen Relation sehen. Es wird addiert, wieviele Menschen in der Zeit, in der er tätig war, umgekommen sind. So heißt es im Plädoyer, mitschuldig am Tod von... usw. Das bedeutet nicht, daß er 800.000 Menschen umgebracht hat. Es geht um den Zeitraum, in dem soundsoviel Hunderttausende der nazistischen Mordmaschinerie zum Opfer gefallen sind und Demjanjuk in einem Vernichtungslager an einer bestimmten Stelle eine bestimmte Funktion ausgeübt haben soll. Daher stammt diese Formulierung.
Heißt das, daß in einem israelischen, im Gegensatz zu einem deutschen Verfahren, nicht die individuelle Tötung nachgewiesen werden muß?
Aber nein, das ist genauso wie hier. Hier haben Sie ja auch diese dem Laien unverständlich erscheinende Formulierung „Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen“. Demjanjuk muß die persönliche Schuld nachgewiesen werden.
Eines der größten Probleme dieses Prozesses war die Frage der Identität des Angeklagten. Sie als Gutachter haben dort vor allem einzelne Dokumente wie den Dienstausweis von Demjanjuk überprüft. Zu welchem Schluß sind Sie gekommen?
Zunächst zwei Vorbemerkungen: In der Öffentlichkeit ist mitunter nicht richtig gesehen worden, daß es weniger ein Treblinka- Prozeß war als vielmehr ein Verfahren um die Teilnahme eines sowjetischen Hilfswilligen an den Vernichtungsmaßnahmen im Falle Treblinka. Es gab von Anfang an nur zwei Kernfragen des Prozesses: Die Identifizierung und die Tatbeteiligung. Die Identifizierung stand bereits im Auslieferungsverfahren in Cleveland (USA), an dem ich auch teilgenommen habe, im Mittelpunkt. Damals ging es darum, ob Demjanjuk gelogen hat, als er in die Vereinigten Staaten einwanderte. Die Echtheit des Dienstausweises steht ohne Zweifel fest. Das ist auch einer der Irrtümer in der Öffentlichkeit: Es ist zu Teilen auch ein Dokumentenprozeß in dem Sinne, daß es um Personaldokumente der Hilfswilligen, die in Travniki ausgebildet und in verschiedenen Bereichen, vornehmlich bei der „Endlösung“ in den Vernichtungslagern und auch bei den Ghetto-Räumungen eingesetzt wurden, ging. Die Identitätskarte, die den Mann Iwan Demjanjuk zeigt, ist ein echtes Dokument. Das Dokument ist anhand modernster Modalitäten überprüft worden und danach steht für alle fest: das Papier ist echt und gibt eine korrekte Beschreibung des Mannes wieder.
Die Echtheit des Dokuments stellt aber noch nicht sicher, daß der Angeklagte auch mit Demjanjuk identisch ist.
Das hat unter anderem die Fotoanalyse ergeben. Der Mann, der auf dem Dokument abgebildet ist, korrespondiert mit einer ganzen Reihe weiterer Fotos quer durch sein Leben bis auf den heutigen Tag. Diese Bilder sind ebenfalls nach modernen kriminaltechnischen Methoden analysiert worden und weisen überall den gleichen Mann aus. Daran besteht kein Zweifel.
Die Arbeit der Verteidigung ist während dieses Prozesses sehr ins Zwielicht geraten, unter anderem, weil sie mehrfach Gutachter bestellt hat, die sich als unfähig erwiesen. Wie war die Atmosphäre während des Prozesses gewesen?
Die Verteidigung hat nach meinem Dafürhalten drei kapitale Fehler begangen: Der erste betraf Verteidiger OConnor, der das Gericht ständig mit einer amerika nischen Jury verwechselte und so agierte, als wolle er Geschworene beeinflussen. Das war optisch, taktisch und atmosphärisch eine alberne Affäre, die der Verteidigung sicher geschadet hat. Ein zweiter, noch gravierenderer Fehler war, daß die Verteidigung das Verfahren auch nach dem Ausscheiden OConnors und seiner Ersetzung durch den israelischen Anwalt Sheftel in einen antikommunistischen Show-Prozeß umfunktionieren wollte. Der dritte Kardinalfehler war, daß sie sich im Hinblick auf den Ausweis und andere Papiere auf die Fälschungsthese eingelassen hat. Die Verteidigung hat völlig übersehen, daß sich Dokumente aus dem Ostblock, vor allem aus der Sowjetunion, die in einem NS-Prozeß eine belastende Rolle gespielt haben, über Jahrzehnte hinweg bis zum heutigen Tag als echt erwiesen haben und nicht in einem einzigen Fall eine Fälschung nachweisbar war. Was die Gutachter anbelangt, war die Verteidigung offenbar nicht darauf vorbereitet, eine Tiefenprüfung vorhandender Personaldokumente vornehmen zu lassen. Die von ihr zugezogenen „Experten“ hatten, soweit ich das beurteilen kann, herzlich wenig Ahnung.
Die Publizität dieses Prozesses war in Israel recht groß. In der Bundesrepublik war die Publizität demgegenüber nahe Null. Haben Sie dafür eine Erklärung?
In der israelischen Öffentlichkeit hat es durch die Übertragungen in Rundfunk und Fernsehen eine große Resonanz gegeben. Dies hat im Hinblick auf die nachgeborene Generation natürlich auch eine erzieherische Funktion. Warum die deutsche Presse, von wenigen Ausnahmen abgesehen, über den Prozeß praktisch nicht berichtet hat, ist mir wirklich schleierhaft. Es kann auch nicht damit zusammenhängen, daß israelische Korrespondenten relativ zurückhaltend berichtet haben, denn selbst die sachliche Berichterstattung hat keinen kontinuierlichen Eingang in die deutsche Presse gefunden. Dabei ist, historisch gesehen, der Prozeß interessanter als die ganze Waldheim-Affäre.
Warum?
Weil er ein unaufgearbeitetes Stück Geschichte der „Endlösung“ thematisiert, das in der Geschichtsschreibung kaum behandelt wurde, und wenn, dann nur schief, falsch oder nur am Rande.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen