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„Wir hätten es nicht für möglich gehalten“

Hätte man all die Gespräche, die am Sonntag im großen Saal des Dominikanerklosters Walberberg bei Bonn geführt wurden, auf Tonband aufgenommen und danach einem ahnungslosen Menschen abgespielt, hätte dieser vermutlich angenommen, es handele sich um eine Debatte zwischen Verrückten. Die Versammelten, zwischen 20 und 70 Jahre alt, erzählten sich die unglaublichsten Geschichten. Zahlreiche Mosaiksteinchen fügten sich zu einem gespenstischen Bild von der Colonia Dignidad, der deutschen Siedlung in Chile, wo hinter doppeltem Stacheldrahtzaun auf einem durch Lichtschranken und akustische Signalanlagen gesicherten Gelände der Sektenführer Paul Schäfer und seine Clique ein System totaler Kontrolle über etwa 300 deutsche Siedler errichtet haben. Kinder werden sexuell mißbraucht, Menschen gefoltert und mit Einsatz von Psychopharmaka seelisch gebrochen und zu willenlosen Automaten gemacht.

Im Kloster hatten sich etwa 30 Angehörige der Insassen der Colonia Dignidad versammelt, um zu beraten, wie sie die Gunst der Stunde – die Anhörung prominenter Zeugen in Sachen Colonia Dignidad vor einem Unterausschuß des Bundestages – am besten nutzen könnten, um ihre Angelegenheit an die Öffentlichkeit zu tragen. Bereits vor zwei Wochen hatten sie sich hier zum ersten Mal getroffen. Die Initiative zur Bildung der „Not- und Interessengemeinschaft der Angehörigen und Verwandten der Colonia Dignidad“, der inzwischen über 60 Personen angehören, war von Wolfgang Kneese ausgegangen, der beim Stern in der Dokumentarabteilung arbeitet. Wolfgang Müller, wie er damals hieß, war der erste von inzwischen etwa zehn Flüchtlingen der Siedlung. 1966 war ihm im dritten Versuch eine äußerst abenteuerliche Flucht geglückt. Und zum ersten Mal kam die Colonia Dignidad in deutsche Schlagzeilen. Der damals 20jährige berichtete, wie man ihn geschlagen und mit Medikamenten vollgestopft hatte, wie er nach den ersten beiden mißglückten Fluchtversuchen nachts weiße und tagsüber rote Hosen und Schuhe mit extrem markantem Profil tragen mußte, und daß er seine Mutter, die ebenfalls in der Colonia Dignidad lebte, über zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte, weil sie eingesperrt war.

Was damals bereits bekannt wurde und elf Jahre später, 1977, über eine Serie in der Illustrierten Stern sowie eine materialreiche Broschüre von amnesty international eine größere Öffentlichkeit erregte, war vielen der Angehörigen, die sich im Kloster trafen, noch vor wenigen Monaten unbekannt. So hatte etwa Emmi Schwandt, Schwester von Albert Schreiber, einem der Mitbegründer der Siedlung, erst durch die Veröffentlichungen im letzten November vom Skandal erfahren. Zwar wußten sie alle von ihren Verwandten in Chile. Doch haben sie mehr oder weniger regelmäßig immer Post von ihnen erhalten, durchweg nichtssagende Briefe, in denen von der wunderbaren Natur und der harmonischen Gemeinschaft geschwärmt wird. Fast jede und jeder im Klostersaal hat einen Ordner mit Briefen mitgebracht, und diese lauten verdächtig ähnlich. Sie werden diktiert, bestätigt Wolfgang Kneese aus eigener Erfahrung. Elsa Günzel, geborene Ritz, hat mehr als einen Ordner angeschleppt. Ihr gesammeltes Leiden ist nach Akten geordnet. Die Akte über den im Krieg gefallenen Bruder Wilhelm ist relativ dünn. Die Akte über den Bruder Gustav, der als Deserteur am 5.Mai 1945 hingerichtet wurde, enthält das von Filbinger (“Was damals recht war, kann heute nicht mehr recht sein“) gezeichnete Todesurteil. Am dicksten jedoch ist die Akte über ihre Schwester Hilde. Seit 25 Jahren pflegen die beiden Schwestern einen sonderbaren Briefwechsel. Als Elsa 1973 nach dem Tod der Mutter ihre Schwester bat, wenigstens zur Beerdigung zurückzukommen, und ihr auch anbot, den Flugschein zu bezahlen, bekundete diese Angst vor Flugzeugentführungen, und überhaupt, so schrieb sie zurück, verstehe sie nicht, weshalb man sie immer wieder zu Hause haben wolle. Das jüngste Schriftstück datiert vom 20.Februar 1988. Es ist ein Telegramm aus Santiago: „Postkarte heute erhalten. Leck mich am Arsch. Hilde.“ Elsa hatte ihr Schwester aufgefordert, sich bis zum 22.Februar zu melden und angedroht, daß sie andernfalls eine Protestaktion starten werde.

Wie viele andere hat auch Elsa Günzel das Auswärtige Amt um Hilfe gebeten, und wie viele andere hat auch sie ein beschwichtigendes Schreiben erhalten – beiliegend: eine eidesstattliche Erklärung, daß Hilde Ritz aus freier, eigener Entscheidung in der Siedlung lebe und dort bleiben wolle, versehen mit dem Stempel der deutschen Botschaft zu Santiago.

Seit mindestens elf Jahren weiß man in Bonn von der Tragödie im Süden Chiles. Doch niemand hat dort ernsthaft den Versuch gemacht, ihr ein Ende zu bereiten. Im Auswärtigen Amt wurden nur freundliche Briefe aufgesetzt: „Leider... wir bedauern... blabla.“ Das wollen sich nun die 30 Angehörigen nicht mehr länger bieten lassen. 25 Jahre sind genug! Noch am Abend werden Spruchbänder für die Kundgebung am nächsten Morgen gemalt. Für die allermeisten wird es die erste Demo ihres Lebens sein.

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