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Fehler oder „falsche Prognose“?

■ Jetzt beginnt die Kritik am Einmarsch 1979 / UdSSR–Medien leiten Rückzug aus Afghanistan ein

In der Sowjetunion hat die Aufarbeitung des Afghanistan–Traumas begonnen. Parallel zu den politischen Signalen, die auf einen baldigen Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan hindeuten, wird in den amtlichen Medien des Landes in recht freimütiger Weise über den Krieg in Afghanistan und die Rückkehr der Truppen in die Heimat nachgedacht. In Zeitungsartikeln wird intensiv auf die Lage der Familien hingewiesen, deren Angehörige in Afghanistan gefallen sind. Es gibt auch Kritik an der Regierung, weil diese angeblich nicht genug für die körperlich und seelisch lädierten Veteranen tut. Es scheint, daß man in Moskau einen täglichen Blutzoll von rund fünfzig getöteten oder verwundeten Soldaten nicht länger hinnehmen will und auf einen baldigen Rückzug aus Afghanistan vorbereitet ist. „Egal, was in Genf passiert, wir werden dieses Jahr abziehen“, sagte ein sowjetischer Experte Journalisten letzten Monat in Kabul. Entsprechend fällt denn auch die ideologische Begleitmusik zum Rückzug aus. Der Militärpublizist Alexander Prochanow, auch regelmäßiger Kommentator der Parteizeitung Prawda, schreibt in der Literaturnaja Gazeta, die Kommunistische Demo kratische Volkspartei von Afghanistan (PDPA), zu deren Unterstützung seinerzeit die sowjetischen Truppen ins Land gekommen waren, habe ihr Ziel verfehlt, Afghanistan zu einem sozialistischen Land umzuformen. „Sie hat Fehler bei den politischen Konzepten gemacht, die falschen Rezepte angewendet und versucht, einen Sozialismus unafghanischen, unislamischen Zuschnitts einzuführen, mit dem gegen Tra ditionen verstoßen, Gewalt und Unterdrückung heraufbeschworen wurde“, kritisiert der Autor die Regierung in Kabul. Die PDPA sei jedoch mittlerweile von ihrer ursprünglichen Politik abgegangen, und so sei heute die sowjetische Truppenpräsenz in Afghanistan überflüssig geworden. In Frageform tastet sich Prochanow an den kritischen Punkt heran, ob der Einmarsch im Dezember 1979 demnach ein politischer Fehler der UdSSR war, und erklärt dann: „Ich denke, man sollte die Frage so nicht stellen. Es gab eine falsche Prognose.“ Die Experten - Diplomaten, Islam– Spezialisten, Politiker und die Militärführung - hätten sich bei der Einschätzung der Situation in Afghanistan geirrt. Der Artikel ist der erste öffentliche Hinweis darauf, daß die UdSSR–Führung die Intervention insgesamt neu bewerten könnte. Bislang heißt es immer, der Einmarsch sei notwendig gewesen, um die rechtmäßige Regierung des Landes vor ausländischer Einmischung zu schützen. Prochanow behauptet aber zugleich, die Militärpräsenz habe auch Vorteile gebracht. So sei ein „Fundamentalismus iranischen Typs nun unmöglich“ in Afghanistan, weil das Land ihn nicht akzeptieren würde. Damit sei zugleich die Gefahr gebannt, daß die fundamentalistischen Ideen auch auf sowjetisches Territorium in Zentralasien übergreifen und dort zünden könnten. Man dürfe deshalb den Abzug der Truppen aus Afghanistan nicht als eine Niederlage sehen. „Es handelt sich um den organisierten Rückzug aus einem Land, das wir nie besetzen, zerstören oder unterwerfen wollten.“ Robin Lodge (reuter)

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