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Pressestreit über Gorbatschows Reformpolitik

■ Die Veröffentlichung eines Leserbriefs in der Leningrader Sowjetskaja Rossija, in dem Stalin verteidigt und die Reformer angegriffen werden, hat eine scharfe Replik der Parteizeitung Prawda hervorgerufen / Auch andere Zeitungen schalten sich inzwischen ein

Von Erich Rathfelder

Berlin (taz) - Im Meinungsstreit der führenden sowjetischen Tageszeitungen über den Kurs der Perestroika mußte die Sowjetskaja Rossija gestern kleinbeigeben. Ohne weiteren Kommentar druckte das Parteiorgan der Russischen Sowjetrepublik den vollen Wortlaut einer Kritik der sowjetischen Parteizeitung Prawda an einem Artikel in der eigenen Zeitung ab. Die Prawda wirft in dieser Kritik der Sowjetskaja Rossija vor, in einem als „Brief an die Redaktion“ bezeichneten Beitrag, der am 13. März abgedruckt worden war, vom Kurs der Perestroika abgewichen zu sein und die Politik des Diktators Josef Stalin reinzuwaschen. In diesem Beitrag hatte die Leningrader Sowjetskaja Rossija, eine der größten Zeitungen der UdSSR, die sich entwickelnde Kritik an Stalin und dessen Verbrechen dafür verantwortlich gemacht, daß sich in der Jugend „ein ideologischer Mischmasch“ vollziehe und nihilistische Tendenzen ausbreiteten. Die politischen Leitbilder würden verschoben und politische Fragen ideologisch undifferenziert behandelt. „Was außer Desorientierung können zum Beispiel die Offenbarungen über die Konterrevolution in der UdSSR in den 30er Jahren oder über die Schuld Stalins an der Machtergreifung des Faschismus und Hitlers für die Jugend bringen? Oder die öffentliche Zählung der Stalinisten unter den Angehörigen der verschiedenen Generationen und sozialen Gruppen?“, hatte die Leningrader Dozentin Nina Andrejewa in dem inkriminierten Leserbrief gefragt. Es sei schon so weit gekommen, daß von den „Stalinisten“ Reue verlangt werde, beklagt sie und greift vehement die neue Kulturpolitik an. Namentlich nennt sie den Dramatiker M. Schatrow, zu dessen Stück „Blaue Pferde auf rotem Gras“ Jugendliche sogar Transparente mitbrachten, „die im Grunde bezweckten, unsere Vergangenheit und Gegenwart mit Schmutz zu bewerfen“. Scharf aufs Korn nimmt die Autorin die Anhänger des „linksliberalen Sozialismus“ und deren Tendenz, „die Geschichte zu verfälschen“. „Sie wollen uns einreden, daß in der Vergangenheit unseres Landes nur die Fehler und Verbrechen Realität sind, und verschweigen dabei die großartigen Errungenschaften der Vergangenheit und Gegenwart. Mit dem Anspruch, Hort der historischen Wahrheit zu sein, ersetzen sie die sozialen und politischen Entwicklungskriterien der Gesellschaft durch eine Scholastik ethischer Kategorien... Woher kommt bei uns nur diese Passion, Ansehen und Würde der führenden Persönlichkeiten des ersten Landes des Sozialismus in der Welt wie billige Ware zu verschleudern?“, sorgt sich die Autorin, um sogleich die „kosmopolitische Tendenz“ der „Linksliberalen“ anzugreifen. Dieser „nichtnationale Internationalismus“, der schon bei Trotzki auftrete, behaupte, das russische Volk habe „keinerlei kulturelles Erbe empfangen“, beschwert sie sich und geniert sich auch nicht, antisemitische Töne anzuschlagen. „Ich habe irgendwo gelesen, daß nach der Revolution in den Petrograder Sowjet einmal eine Abordnung von Händlern und Fabrikbesitzern zu Trotzki als zu einem Mitjuden kam, um sich über die Rotgardisten zu beschweren, und daß Trotzki ihnen erklärte, er sei nicht Jude, sondern Internationalist“, was die Leute völlig verblüfft habe. So könne man ersehen, daß bei den Internationalisten der Begriff „Nationales“ eine gewisse Minderwertigkeit habe, betont sie ihre nationalen Gefühle und spitzt ihre Kritik zu: „Mit dem militanten Kosmopolitismus geht heute ein Sich–Lossagen vom Sozialismus einher.“ Überhaupt sei „mancher geneigt, das Sich–Lossagen quasi als Ausdrucksform von Demokratie und Menschenrechten zu betrachten, die vom erstarrten Sozialismus an ihrer Erfüllung gehindert würden“. Demgegenüber bestehe weiterhin die Hauptfrage, „ob man die führende Rolle der Partei– und der Arbeiterklasse beim sozialistischen Aufbau, also auch bei der Umgestaltung anerkennt oder nicht anerkennt“. In Berufung auf Gorbatschow ruft die Autorin dazu auf, sich „in unserem Handeln von unseren, den marxistisch–leninistischen Prinzipien leiten zu lassen“. In dem Prawda–Kommentar dagegen wird laut Agenturberichten daran erinnert, daß mehr Demokratie zwar das Recht auf die Äußerung verschiedener Meinungen bedeute, die Medien aber auch Verantwortung trügen. „Wir brauchen Argumente, die die Perestroika vorantreiben ...“ Eine Abkehr von den Reformen hätte schwerwiegende Konsequenzen für die Sowjetunion, sowohl im Innern wie nach außen. „Es gibt keine Alternative zur Perestroika“, zitiert die Prawda Gorbatschow. Auch in anderen Zeitungen ist der Meinungsstreit entbrannt. Die von der Presseagentur Nowosti herausgegebene Moskowskije Nowosti berichtet über reformfeindliche achtseitige anonyme Aufrufe, die zum Widerstand gegen Gorbatschow ermunterten. Das Blatt rief dazu auf, die Unterstützer der Reformpolitik sollten sich „aktiver konsolidieren“. Die Hauptgegner der Reform säßen im „konservativsten Teil des Apparats“, der unter Breschnew erzogenen Jugendfunktionäre des Komsomol und bei den „Vertretern der Verteidigungsindustrie“. Der Aufruf zeige auch, daß „eine bestimmte Richtung der Perestroika–Gegner nur auf den Zentralismus setzt“. Offensichtlich wollten diese Kräfte einen „starken Mann da oben“. Auch das Zentralorgan der SED Neues Deutschland hat in den Streit in Moskau eingegriffen. Indem es in der Wochenendausgabe den Artikel der Sowjetskaja Rossija in voller Länge abdruckte, läßt sich leicht ausrechnen, welche Strömung in Ost–Berlin bevorzugt wird. Man darf nun gespannt sein, ob das Zentralorgan auch die Kritik aus der Prawda übernimmt.

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