: Mitterrands Abschied vom Sozialismus
■ Der Kandidat Mitterrand bekennt sich in einem „Brief an alle Franzosen“ zu allem möglichen - nur den Sozialismus hat er vergessen / Ein literarischer Genuß ohne politischen Inhalt
Aus Paris Georg Blume
Francois Mitterrand hat einen Brief geschrieben. An alle Franzosen. Er nennt seine Schrift „eine Art gemeinsamer Reflexion, wie man sie abends bei Tisch in der Familie hat“. Ein Brief also, der alles sein kann, nur kein Wahlprogramm. Francois Mitterrand beschreibt, analysiert, kommentiert auf 60 eigenhändig beschriebenen Schreibmaschinenseiten, teils in familiär–versöhnlichem, teils in väterlich–strengem Ton. Das ist sein letzter Wahlgag. Bisher hatte der Präsidentschaftskandidat Mitterrand alle konkreten Wahlaussagen vermieden. Ein Programm schien er nicht nötig zu haben. Wer nun den Brief des Präsidenten in einer der zahlreichen französischen Tageszei tungen liest, in denen er gestern im vollen Umfang gedruckt wurde, wird neben der Freude an jenem literarisch–geschulten Französisch nicht viel Neues erfahren. Der Stil versteckt die Politik. Mitterrand spricht sich für die Einführung eines Mindesteinkommens für alle aus. Doch auch dieser Vorschlag, den heute Politiker von rechts bis links für eine Million Franzosen ohne Einkünfte einfordern, ist bei ihm nicht weitergehend präzisiert. Ähnlich vage scheint es dann auch, wenn Mitterrand einen „Marshall–Plan für die Dritte Welt“ verlangt oder die Aufstockung französischer Entwicklungshilfegelder. Nur für die Verbesserung der französischen Schulen nennt Mitterrand eine Zahl: Hier sollen in den nächsten fünf Jahren fünf Milliarden DM investiert werden. Im Zentrum der Ausführungen Mitterrands steht abermals sein Lieblingsthema Europa. Die Perspektive des gemeinsamen Marktes stellt er als Herausforderung dar die alle Gewohnheiten der französischen Gesellschaft in Frage stelle. Deshalb soll nun nach seiner Ansicht ein für allemal mit Nationalisierungs– oder Privatisierungsprogrammen Schluß sein, damit Frankreich vereint - „La France unie“ - der Zukunft begegne. Doch so ausführlich und gestenreich der Präsident auch die Feder schwingt: Ein Wort fehlt. Von Sozialismus oder Sozialistischem ist nirgends mehr die Rede. Das ist wohl kein Zufall. Immerhin zeigt sich Mitterrand damit als der, der er ist: ein moderater Zentrumskandidat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen