Der Genozid an den Armeniern

■ Heute jährt sich der erste Völkermord dieses Jahrhunderts

Berlin (taz) - „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?“ höhnte Reichskanzler Adolf Hitler, als er am 22. August 1939 den Oberkommandierenden der Heeresgruppen den Überfall auf Polen ankündigte. Er habe seinen Totenkopfverbänden Befehl erteilt, „unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken“. 24 Jahre zuvor, am 16. September 1915, hatte der türkische Innenminister Talaat der Präfektur von Aleppo telegraphisch mitgeteilt, „daß die Regierung (...) beschlossen hat, alle Armenier, die in der Türkei wohnen, gänzlich auszurotten (...) Ohne Rücksicht auf Frauen, Kinder und Kranke, so tragisch die Mittel der Ausrottung auch sein mögen, ist, ohne auf die Stimme des Gewissens zu hören, ihrem Dasein ein Ende zu machen.“ Als Taalat Pascha das Telegramm aufgab, hatte der „erste Völkermord des 20. Jahrhunderts“, wie die Menschenrechtskommission der UNO später feststellen sollte, längst begonnen. In der Nacht vom 24. auf den 25. April 1915 wurden in Konstantinopel, der Hauptstadt des Osmanischen Reiches, über 600 führende armenische Persönlichkeiten verhaftet. Es war der Auftakt zu einem systematischen, staatlich organisierten Genozid, dem zwischen 1915 und 1918 1,5 Millionen der insgesamt etwa 2,1 Millionen Armenier innerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches zum Opfer fielen. Armenien - zwischen dem Russischen, dem Persischen und dem Osmanischen Reich gelegen - war jahrhundertelang vorzugsweise Opfer im Poker der Großmächte. Nach dem Russisch–Persischen Krieg von 1828 wurde es endgültig geteilt. Ostarmenien wurde dem Zarenreich zugeschlagen, das größere Westarmenien blieb unter der Herrschaft der Sultane. Bereits gegen Ende des letzten Jahrhunderts kam es dann zu den ersten großen Massakern. Das Osmanische Reich, das sich bereits in einem fortgeschrittenen Zerfallsprozeß befand, reagierte auf freiheitliche Regungen der Armenier und auf ihre Bestrebungen nach nationaler Emanzipation mit harter Repression, schürte Religionshaß und entfachte Pogrome. Zwischen 1894 und 1896 wurden 300.000 Armenier ermordet. Doch erst die Jungtürken, die 1908 sich an die Macht geputscht hatten, strebten systematisch die „Endlösung“ an. Kaum beachtet von der Weltöffentlichkeit wurden während des Ersten Weltkriegs 1,6 Millionen Armenier ermordet. Wer nicht von kurdischen und türkischen Bauern, die man zum Heiligen Krieg gegen die christlichen Armenier aufgehetzt hatte, erschlagen, gehenkt, gekreuzigt oder erdrosselt wurde, starb bei der Deportation in die syrischen Wüsten an Hunger, Durst, Seuchen oder Erschöpfung. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches konnte sich 1918 eine völkerrechtlich anerkannte Republik Armenien etablieren, die aber bereits 1920 Opfer der Verständigung zwischen dem revolutionären Rußland und der neuen türkischen Republik Kemal Atatürks wurde. Zwar verurteilte ein alliiertes Kriegsgericht in Konstantinopel die jungtürkischen Führer des Osmanischen Reiches in Abwesenheit wegen Kriegsverbrechen zum Tod. Doch die Massaker an den Armeniern gingen zunächst auch unter der Herrschaft Atatürks weiter. Allein bei der Eroberung von Smyrna (Izmir) durch türkische Truppen starben 1922 über 10.000 Armenier. Der Hauptverantwortliche des ersten Völkermords dieses Jahrhunderts, der türkische Innenminister Taalat Pascha, wurde am 15. März 1921 auf der Hardenbergstraße in Berlin–Charlottenburg erschossen. Der Schütze, der armenische Student Salomon Tehlerjan, machte keine Anstalten zu fliehen und ließ sich widerstandslos festnehmen. Vor Gericht wurde der Attentäter, der bei den Massakern die ganze Familie verloren hatte, zweieinhalb Monate später freigesprochen. thos