: Der dritte Frühling in Tschernobyl
■ Auf der Suche nach der Normalität - Zwei Jahre nach der Reaktorkatastrophe in der Ukraine
„Tschernobyl. Ein kleines, reizendes ukrainisches Provinzstädtchen, ganz in Grün gebettet, voller Kirsch– und Apfelbäume. Im Sommer haben hier die Kiewer, die Moskauer und die Leningrader gern ihren Urlaub verbracht“ (Jurij Stscherbak). Wer immer kann, meidet heute, zwei Jahre nach dem Unfall in Tschernobyl, die verstrahlte Zone wie die Pest. Bedauernswert die abgestellten Polizisten, deren Aufgabe es ist, in der menschenleeren Gegend todesmutige Plünderer zu jagen.
Zwei Jahre nach der Katastrophe von Tschernobyl „versinkt der im Sarkophag bestattete Reaktor immer mehr in einen Dämmerzustand. Mit Sensoren gespickt dient er als einmaliges Forschungsobjekt. Die Daten werden den Fachleuten in allen Ländern zur Verfügung gestellt“. Glaubt man Alexander Lapschin, dem stellvertretenden Minister für Atomenergie– Wirtschaft in der UdSSR, dann hat sich die Sowjetunion durch den Super–GAU international verdient gemacht. Tschernobyl als einmaliges Forschungsprojekt und Beweis für die Beherrschbarkeit des Super–GAUs? Zum 2.Jahrestag des Unfalls stellt die Sowjetunion ihre Anstrengungen zur „Normalisierung“ heraus. Atomminister Nikolai Lukonin weist in der Zeitung Sozialistische Industrie auf die umfangreichen Entseuchungsarbeiten hin. Das AKW selbst, aber vor allem „Hunderte von Siedlungen“ und große Flächen verseuchten Territoriums seien „entstrahlt“ worden. Und der in seinem Beton– und Stahlsarg glimmende Unglücksreaktor gebe jetzt sogar weniger Radioaktivität ab als die neben ihm arbeitenden drei Blöcke. Die Strahlungslage sei erfreulich „ruhig“. Im gleichen Atemzug muß das Atomministerium allerdings zugeben, daß noch immer mit Wechselschichten gearbeitet wird: Nach fünftägiger Arbeit in den Nachbarblöcken des Unglückreaktors wird die Belegschaft komplett abgelöst und eine Woche in Erholung geschickt. Entgegen den offiziellen Informationen verläuft das Leben in der „Zone“ - so nennt die Bevölkerung das betroffene Gebiet in der Ukraine - bis heute im ökologischen Ausnahmezustand: Gespensterstädte mit leeren Häusern und vergrabenen Möbeln, durch radioaktive Strahlung verkrüppelte Bäume und Pflanzen bestimmen das Bild. Dazwischen alte Leute, die trotz der starken Verseuchung ihre Heimat nicht verlassen haben oder frühzeitig zu rückgekehrt sind. Der staatliche Handel versorgt sie mit Brot, Zucker und Konserven aus unbelasteten Regionen. Die Kraftwerkstadt Pripjat, für 80.000 Menschen geplant und gebaut, beherbergt jetzt noch 500 Personen, die hier nach Angaben von Alexander Lapschin „kommunale Einrichtungen betreuen“. Eine „Rückführung der Einwohner ist für die nächste Zeit nicht eingeplant“. 50 km entfernt wird schon eine neue Stadt - Slawutitsch - für 25.000 Einwohner gebaut und die ersten Häuser bezogen. Nach dem „Verdünnungsprinzip“ arbeitet das Staatskomitee für Landwirtschaft in der Zone. Rindvieh, das mit verseuchtem Futter gemästet wurde und „über der Norm“ liegt, wird „ein paar Monate“ vor der Schlachtung mit Grünzeug und Silage aus „sauberen“ Regionen gefüttert. Mit dieser Methode soll es im Raum Gomel gelungen sein, den Anfall radioaktiv verseuchter tierischer Produkte um das Sechsfache, bei der Milch um die Hälfte zu senken. Im Gebiet Mogiljow wurde „trotz extremer Bedingungen“, wie es offiziell heißt, der Produktionsplan der Landwirtschaft erfüllt. Kolchos– und Sowschosbetriebe konnten sogar Prämien ausschütten. Dasselbe wird aus der Region Gomel berichtet, die teilweise innerhalb des 30km–Radius um das AKW liegt. Wo die hier produzierten Erzeugnisse bleiben, ist unklar, denn die Zone selbst wird weiterhin mit Fleisch, Milch, Eiern und Gemüse von außen versorgt. Hochkonjunktur hatten die ukrainische Straßenbau–Brigaden. Plätze, Straßen und Wege wurden eiligst neu asphaltiert, um die Strahlenbelastung durch Staubpartikel zu reduzieren. Waschanlagen für Landmaschinen trafen ein, Wasserfernleitungen und artesische Brunnen wurden angelegt, und das Traktorenwerk Minsk stellte eine Spezial– Fahrerkabine für Landwirtschaftsschlepper vor, die - als Überdruck–Kammer ausgelegt - radioaktiven Staub fernhält. Dennoch lassen Planer und Politiker durchblicken, daß es bis heute in der Zone nicht gelungen ist, sichere Arbeitsplätze zu schaffen. Es mangelt auch und vor allem an moderner Technik zur Entseuchung der Region. Während am „havarierten“ Reaktor moderne, ferngesteuerte Technik aus dem Ausland zum Einsatz kam, regierte in der Zone beim Abtragen der verseuchten Ackerkrume als Hauptarbeitsmittel die Schaufel. Bei den Entseuchungsarbeiten war vor allem Militär eingesetzt worden. Die Anwohner beunruhigte allerdings weniger die ungenügende Gerätschaft der Entseuchungstrupps, sondern eine ganz andere Beobachtung: Die Soldaten ließen nicht nach, sich für die einheimischen Mädchen zu interessieren. Das hatte Folgen. Die Neugeborenen sollen allerdings alle gesund sein. Mediziner versichern, daß ein signifikantes Anwachsen der Krebsrate in der Zone bisher nicht zu beobachten sei. Doch dieselben Ärzte, die diese Beruhigungspillen verteilen und die Bevölkerung vor Ort betreuen, arbeiten nach der „Wachtowyj“–Methode: Arbeiten in der Zone, Wohnen in sicheren Gebieten außerhalb. Zum Jahrestag hat die Sowjetunion noch eine andere Überraschung parat: Fünf Reaktoren des Tschernobyl–Typs werden „in Kürze“ fertiggestellt sein, kündigte Alexander Lapschin vergangene Woche an. Der Reaktortyp Tschernobyl wurde nach dem Supergau zwar für alle Neuplanungen gestrichen, doch der bereits begonnene Bau von fünf Reaktoren wurde aus wirtschaftlichen Gründen und trotz der Proteste der Bevölkerung durchgezogen. Lapschin: „Die Menschheit hat den gesetzmäßigen und natürlichen Weg der Umgestaltung des Energiesystems beschritten. Sie wird sich vom Ausbau der Atomenergie nicht abbringen lassen.“ Alice Meyer/Manfred Kriener
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