: Berliner Vorstoß gegen Altersarmut
■ Bei sozialhilfebedürftigen alten Menschen werden Angehörige nicht mehr zur Kasse gebeten / Ausführungsvorschriften sollen Gang zum Sozialamt erleichtern / CDU–Wahlgeschenk an ältere Berliner
Aus Berlin Vera Gaserow
Der Berliner Senat hat einen bisher einmaligen Vorstoß gemacht, um alten Leuten die Scham vor dem Gang zum Sozialamt zu nehmen. Mit Wirkung vom 1. Mai dieses Jahres an sind die Berliner Sozialämter nicht mehr verpflichtet, bei RentnerInnen die Kinder oder Enkel zum Unterhalt heranzuziehen. Diese im Bundessozialhilfegesetz vorgesehene „Inanspruchnahme von Drittverpflich teten“ war bisher insbesondere für ältere Frauen, deren Rente unter dem Sozialhilfesatz liegt, ein Grund, auf die Unterstützung lieber zu verzichten. Nach Untersuchungen von Experten leben in der Bundesrepublik 500.000 Menschen von einer Rente unterhalb des Sozialhilfesatzes. Rund 50 Prozent von ihnen verzichten aus Scham auf die Sozialhilfe, auch weil sie ihren Kindern nicht auf der Tasche liegen wollen. Mit einer Veränderung der Ausführungsvorschriften soll in Berlin diese „verschämte Altersarmut“ jetzt gemildert werden. Die Sozialämter können künftig die Anträge von alten Menschen als Härtefälle einstufen und damit die Angehörigen von der Regreßpflicht entbinden. Die betroffenen alten Menschen, worunter in Berlin überproportional viele Frauen sind, forderte Sozialsenator Fink im Pressedienst des Senates dazu auf, sich an die Sozialämter zu wenden, um zu ihrem Recht zu kommen. Fink, seit kurzem auch Vorsitzender der CDU–Sozialausschüsse (CDA) wörtlich: „Es ist ein Armutszeugnis für eine Gesellschaft, wenn sie Menschen, die im Alter in Not geraten, alleine läßt.“ Die bisher beispiellose Maßnahme ist sicher auch als ein Bonbon für die 1989 in Berlin anstehenden Wahlen zu verstehen. Wie genau sie aussehen soll, geht aus den Ankündigungen des Senats nicht hervor. Auch wie groß die Anzahl derer geschätzt wird, die von dieser Härtefallregelung gebrauch machen könnten, ist offen. Klar ist nur, daß der Verzicht auf die Heranziehung Dritter eine Kann–Bestimmung ist. Offen ist dagegen, ob sich diese neue Regelung nur auf neugestellte Anträge bezieht oder ob in Zukunft auch die Angehörigen von bisher schon Sozialhilfe beziehenden alten Menschen nicht mehr zur Kasse gebeten werden. Das würde allerdings unabsehbare Kosten verursachen. Spannend dürfte weiter sein, inwieweit durch diesen Vorstoß des Berliner CDU–Senats auch andere Bundesländer - darunter insbesondere die SPD–regierten Länder - unter Zugzwang geraten. Für seine Länderkollegen hat Fink noch eine andere Initiative parat: Zur Zeit kursiert ein Finkscher Gesetzesvorschlag, der Anklänge an ein von den Grünen gefordertes Grundrentenmodell - allerdings auf niedrigstem Niveau - hat. Danach soll alten Leuten mit niedriger Rente der Differenzbetrag zum Sozialhilfesatz automatisch mit der Rente überwiesen werden.
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