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Weder Reform noch Friedhofsruhe

Die Abgesandten des Primas von Polen - sie sind engagierte Mitglieder des Klubs der katholischen Intelligenz - waren schon in Nowa Huta und Gdansk (Danzig) eingetroffen, um einem Kompromiß zwischen den streikenden Arbeitern und der Staatsmacht den Weg zu ebnen, als die Spezialeinheiten der ZOMO (Miliz) gestern früh das Betriebsgelände des Stahlwerks von Nowa Huta stürmten. Der Appell des Episkopats zur Mäßigung ist also nur von einer Seite befolgt worden - von der Führung der in den Untergrund gedrängten Gewerkschaft Solidarnosc. Gegen ihren ausdrücklichen Willen ist die Gewerkschaft jetzt auf den Kurs einer scharfen, landesweiten Konfrontation gedrängt. Seit Sommer letzten Jahres hatte Solidarnosc seine Mitarbeit bei der Wirtschaftsreform angeboten. Grundsätzlich war sie sogar bereit gewesen, die Preisreform mitzutragen, selbst wenn die sowieso schon trostlosen Lebensbedingungen der ArbeiterInnen dadurch noch weiter verschlechtert wurden. Solidarnosc hat allerdings stets argumentiert, Preiserhöhungen nützten überhaupt nichts, wenn die Staatsmacht die politische Kontrolle über die Wirtschaft aufrechterhalte. Befürchtungen, daß der einzige wirksame Effekt der „zweiten Etappe“ der Reform in zum Teil mehrhundertprozentigen Preissteigerungen bestehen würde, haben sich seitdem bestätigt. Daher die scheinbar hohen Lohnforderungen bei den gegenwärtigen Streiks, die tatsächlich nicht mehr als eine Kompensation darstellen. Eben weil dieses Ergebnis voraussehbar war, hat Solidarnosc seine Zustimmung zur Reform an die gesellschaftliche Kontrolle des Re formprozesses geknüpft. Die Forderung nach Zulassung des gewerkschaftlichen Pluralismus, wie sie jetzt in Nowa Huta und auf der Danziger Werft erhoben worden ist, will diese Kontrolle sicherstellen. Solidarnosc setzt auf Pluralismus Zumindest der Führung von Solidarnosc um Walesa ging es bisher nicht um Konfrontation, sondern um die Anerkennung eines begrenzten Pluralismus. Die seit letztem Frühjahr von Solidarnosc geführte Kampagne für die Zulassung unabhängiger Gewerkschaften auf Betriebsebene bildet den Kern dieser Politik. Solidarnosc verzichtet damit auf die Institutionalisierung einer gesellschaftlichen Kontrollmacht auf nationaler Ebene. Sie setzt darauf, daß unabhängige Betriebsgewerkschaften zum Motor einer umfassenden kritischen Öffentlichkeit werden können, wie es sie jetzt schon in Ansätzen - nicht nur im Untergrund - gibt. Dieser Kurs der Führung war und ist keineswegs unumstritten. Aber zumindest im bisherigen Streikverlauf haben die „zornigen Jungen“, die die Möglichkeit der Reform verneinen, sich mit den älteren Solidarnosc–Aktivisten verständigt. Und die Staatsmacht? Für Jaruzelski ist es bis auf den heutigen Tag ein Dogma, daß Solidarnosc auf keinen Fall wiederauferstehen darf. Mit diesem Dogma hat er sich selbst paralysiert, hat er all seine demokratischen Avancen zum Scheitern verurteilt. Denn ohne unabhängige Gewerkschaftsbewegung kein Vertrauen der Bevölkerung, mithin keine Unterstützung der Reform. Wie es jetzt aussieht, setzt die polnische Staatsmacht kurzfristig auf den Polizeiknüppel und längerfristig auf den stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse. Damit produziert sie Verbitterung, Resignation, ein Auseinanderfallen der Gesellschaft und die Fundamental–Opposition des Untergrundes. Eine erfolgreiche Reform ist unter solchen Bedingungen unmöglich, nicht einmal Friedshofsruhe kann mit dieser Politik erkauft werden. Galt nicht gerade die Belegschaft der Leninwerft in Gdansk bis zum Streikausbruch als müde, als befriedet? Adam Michnik hat in den letzten Tagen einen Kompromiß als ebenso notwendig wie unmöglich bezeichnet. Das Haupthindernis bildet in seinen Augen die Person Jaruzelskis, der für ihn der Konterrevolutionär ist, im Gegensatz zu Gorbatschow, den er als großen Konterreformator analysiert hat. Nach Michniks Ansicht will Gorbatschow die Machtstrukturen gerade dadurch aufrechterhalten, daß er gesellschaftliche und nationale Gegensätze anerkennt und ihre Organisierung unter dem Dach des Ein–Parteien–Staats duldet. Jaruzelski hingegen sei gerade zu diesem Schritt nicht bereit. Die Achtung, die Gorbatschow mittlerweile in Polen genießt, Walesas geradezu überschwenglicher Gruß an ihn, verweisen auf eine Änderung in der Einstellung zur Sowjetunion, vielleicht sogar auf Hoffnungen. Aber alles, was wir beobachten können, beweist, daß Gorbatschow Jaruzelski unterstützt, ja daß er in ihm einen engen Verbündeten des Umbaus sieht. Zwar ist man in der Sowjetunion spektakulär von der alten These abgerückt, die polnischen „Ereignisse“ seien das Produkt kapitalistischer Überbleibsel und westlicher Steuerung. Aber die Einsicht, daß die Konflikte auf dem Boden des Sozialismus entstanden, daß sie hausgemacht sind, hat überhaupt nicht dazu geführt, daß die Solidarnosc–Aktivisten heute mit anderen Augen gesehen werden. Sie sind und bleiben „Agenten“ der anderen Seite. Ein Gutes hat freilich Gorbatschow für die Polen: Die Führung kann sich nicht mehr mit dem Hinweis auf eine drohende sowjetische Intervention als das kleinere Übel empfehlen. Sie ist verantwortlich, für einen Kompromiß, aber auch für die Niederschlagung der Streiks. Darin liegt eine Chance. Um sie zu nutzen, ist freilich jetzt Druck notwendig, konkret die Drohung mit einer allgemeinen, landesweiten Streikwelle, noch konkreter: mit dem sofortigen Beginn weiterer Streiks. Nichts wäre fataler, als mit Aufrufen zur Streikbesetzung fortzufahren, sei es seitens des polnischen Episkopats, sei es seitens der ewig wohlmeinenden Freunde bei uns. Christian Semler

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