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Die RealpolitikerInnen setzen auf Sieg Reform oder fundamentale Kritik? Für die Realos ist diese Kernfrage grüner Politik nicht mehr virulent: Realpolitik oder (grüner) Tod lautet jetzt die Alternative, die eine fundamentalistische Oppositi

Die RealpolitikerInnen setzen auf Sieg

Reform oder fundamentale Kritik? Für die Realos ist diese

Kernfrage grüner Politik nicht mehr virulent: Realpolitik

oder (grüner) Tod lautet jetzt die Alternative,

die eine fundamentalistische Opposition ausschließt / Die

Strategie der zweiten Parteigründung oder der „neue

reformökologische Konsens“ der Realos

Von Charlotte Wiedemann

Dem Wörterbuch des Leichenbeschauers scheint das Vokabular entnommen, das in diesen Tagen von grünen Realpolitikern allerorten zu hören ist: Die Partei ströme „Verwesungsgeruch“ aus, sei in „gedankliche Totenstarre“ verfallen, liege gar schon im „Betonsarg“. Daß dabei auch Journalisten der Faszination des Nekrophilen erliegen und bei den Grünen die „Totenglocke schwingen“ sehen, nimmt nicht Wunder. Wenn führende Grünen-Politiker wie Hubert Kleinert nicht mehr nur den innerparteilichen Gegner mit unappetitlichen Ausdrücken belegen, sondern dem gesamten eigenen Projekt den Totenschein ausstellen, signalisiert das eine neue Strategie: Realpolitik oder (grüner) Tod - darauf reduziert sich die Alternative, vor die die Partei gestellt werden soll.

Als vor knapp einem halben Jahr die damalige Spaltungsdebatte die Grünen zerfleischte, haftete den Realos der Geruch an, daß ihre Bonner Protagonisten diese Spaltung mit leichtfertigen Äußerungen heraufbeschworen hatten. Der inhaltsleere, durch Basis-Schelte erzwungene Befriedungsprozeß jenes Dezembers wird heute von manchen als Fehler, als vertane Zeit angesehen. Doch haben die Realos daraus gelernt: Jetzt meiden sie das Wort „Spaltung“, das die Existenz von zwei trennbaren Teilen assoziiert, und formulieren unumwunden ihren Anspruch auf die gesamte Partei - auf der Basis eines realpolitischen Programms, das allein den Grünen eine Zukunft sichern könne. Joschka Fischer: „Es gibt nicht zwei Optionen für die Grünen. Die fundamentalistische Option gibt es nicht.“

Eroberung der neuen

Mittelschichten

Noch ist die programmatische Linie verschwommen, auch herrscht Unordnung in den eigenen Reihen, doch die Realos setzen erkennbar auf Sieg. Da, wo es wie in Frankfurt möglich ist, werden die innerparteilichen Gegner mit Durchstimmen herausgedrängt, doch die bundespolitische Hauptlinie drängt auf eine öffentlichkeitswirksamere Offensive. Auf einem eigenen Realo-Perspektiv-Kongreß im September, der unter der Hand auch schon „Parteitag“ genannt wird, soll der „neue reformökologische Konsens“ programmatisch festgeklopft werden. Udo Knapp, als Realo -Vordenker jetzt im Büro Otto Schilys: „Wir werden der Partei eine Antwort formulieren.“ Der Kongreß soll sich an ein intellektuelles Umfeld wenden, das „sonst schon nicht mehr zu den Grünen kommt“, und damit die Bedingungen für den Kampf um die Partei in den folgenden Monaten verbessern. Mit einer möglichen Zwischenetappe beim Europawahl-Parteitag im November setzt diese Strategie der „zweiten Parteigründung“ (Knapp) auf den Durchmarsch bis zum nächsten Frühjahr, wenn die Neuwahl des Bundesvorstands ansteht.

Im Entwurf eines Realo-Manifests haben Knapp, Kleinert, Fischer, Jo Müller und Waltraud Schoppe skizziert, wie die Zukunft der Grünen als „ökologische Reformpartei“ aussehen soll. Kernstück der Wende ist die Öffnung der Partei für die „neuen Mittelschichten“: „Der städtische, liberale, an seinen individuellen Lebensentwürfen zuerst orientierte konsumfreundliche Citoyen“, der gleichzeitig ökologisch und sozial engagiert ist - so umschreibt das Manifest den Prototyp des anvisierten Grün-Wählers. Udo Knapp: „Unsere Wähler sind nicht die Deklassierten von Rheinhausen und nicht das ausgegrenzte Drittel der Gesellschaft. Wir müssen auf die Bevölkerungsgruppe orientieren, die das ökologische Reformprojekt durchsetzen kann und eigene Lebensstile entwickelt.“

Größere „individuelle Gestaltungschancen“ eröffnen sich für die Manifest-AutorInnen auch durch einen bereits laufenden „Entindustrialisierungs-Prozeß“, bei dem „die formelle Arbeit immer weniger im Zentrum“ stehe. Statt auf eine zentralistische Wirtschaftspolitik, die die ökologischen und sozialen Probleme weder unter kapitalistischem noch sozialistischem Vorzeichen lösen könne, sollten Grüne auf die regionale Entwicklung eines gemischt-ökonomischen Sektors orientieren. Innenpolitisch sieht das Manifest im repressiven Überwachungsstaat nicht die „Haupttendenz“ der Entwicklung, sondern einen defensiven „Versuch, die Allmacht staatlicher Institutionen vor den demokratischen Ansprüchen immer breiterer Schichten zu sichern“. Die Grünen müßten Träger dieser „republikanischen Hoffnungen“ sein, sie in konkrete Strukturvorschläge umsetzen und damit das Grundgesetz „weiterentwickeln“. Im frauenpolitischen Teil erkennt das Manifest den „Aufstand der Mütter“ als „deutlichsten Ausdruck für die Emanzipation der Frauen“ an.

Das „Yuppie-Manifest“ und

der Kampf um die Macht

Antworten auf konkrete Streitfragen sucht man auf den 41 Seiten allerdings vergeblich: Wie etwa Hubert Kleinerts „ökologischer Kapitalismus“ beschaffen sein soll oder wem eine „über die Parteigrenzen hinweg konsensfähige Sozialreform“ in die Taschen greifen will, bleibt im Dunkeln. Doch haben die Realos von den Modernisierern in der CDU gelernt, daß der Weg zur ideologischen Hegemonie über die Besetzung von Begriffen läuft: Nur wir verkörpern ökologische Reformpolitik, und wer bei unserem Kurs nicht mitzieht, verkennt die Krise der Partei.

Um das Papier als Manifest der Realos zu präsentieren, erschien es auch manchen in den eigenen Reihen als zu dürftig, und so wird der Entwurf beim Perspektivkongreß in der nächsten Woche nur die Unterschrift der AutorInnen tragen. Ein „Yuppie-Manifest“ nennt es der Realo-Abgeordnete Dietrich Wetzel verächtlich: „Die unerträgliche Seichtigkeit der Normalität wird zum Programm erhoben.“

Im Realo-Lager tun sich unübersehbar Risse auf, die durch die gemeinsame Abgrenzung vom Gegner nur noch notdürftig überdeckt werden. Für den von der Führungsriege jetzt eingeläuteten Kampf um die Macht in der Partei stehen die eigenen Bataillone nicht gerade in Reih und Glied. Manchen geht die Orientierung auf Marktwirtschaft, Mittelschicht und eine grüngewandete FDP viel zu weit - oder zumindest zu schnell: Die Offensive könnte als Schuß nach hinten losgehen und die Realos in den Kreisverbänden in die Isolation treiben. Lautstark machte sich auf einem Strömungstreffen in der vergangenen Woche Unmut breit: Ob das nur ein „Aufstand der Realo-Zwerge gegen die Promis“ ist, wie ein Beobachter witzelte, oder ob sich die Positionen soweit differenzieren, daß bald nicht mehr von den Realos gesprochen werden kann, wird die Debatte bis zum Realo-Kongreß im September zeigen.

Die Eile, mit der führende Realpolitiker jetzt auf eine Entscheidungsschlacht drängen, mag nicht zuletzt von der Furcht diktiert sein, in den nebligen Schwaden der Verwesung die eigene Truppe aus den Augen zu verlieren. Hubert Kleinert: „Auch bei uns stimmen die Leute mit den Füßen ab.“ Während sich Fundamentalisten beim Niedergang der Grünen noch in „Bewegungszusammenhänge“ retten könnten, würde für manche Realo-Karriere dann endgültig die Totenglocke läuten. Wie heißt es doch in ihrem Manifest: „Die einmalige Chance, jenseits der Sozialdemokratie über eine eigenständige Partei als Reformkraft und Machtfaktor zu verfügen, kommt für unsere Generation nicht noch einmal.“

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