: Für Chatila schlägt die letzte Stunde
■ Erneut heftige Gefechte im Palästinenserlager bei Beirut / Verhandlungen über den freien Abzug der im Camp verbliebenen Arafat-Anhänger / Syrische Truppen und Arafat-Gegner kontrollieren den Eingang / Beobachter befürchten Ausweitung auf andere Lager
Beirut (afp/taz) - Für das palästinensische Flüchtlingslager Chatila, einstige PLO-Hochburg im Süden Beiruts, hat die letzte Stunde geschlagen. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, bis das Lager fällt und die letzten dort verbliebenen Anhänger von PLO-Chef Arafat abziehen. Im palästinensischen Bruderkrieg, der seit dem 30.April 94 Tote und 495 Verletzte gefordert hat, haben die pro-syrischen Mitstreiter von Abu Moussa die Oberhand errungen.
Am Montagmorgen wurde der Eingang des Lagers von Abu Moussa -Anhängern und syrischen Soldaten kontrolliert. Nach einem heftigen Angriff der palästinensischen Arafat-Gegner am frühen Morgen herrschte zunächst ein prekärer Waffenstillstand. 25 Kämpfer von Yassir Arafats Al Fatah, die das Lager verließen, wurden am Kontrollpunkt festgenommen. Eine Gruppe von 25 libyschen Beobachtern und Militärs suchten das Lager auf, um die dort verbliebenen Fatah-Anhänger zum Abzug zu bewegen. Bei Verhandlungen zwischen Libyern und palästinensischen Organisationen im Westbeiruter Lager Mar Elias forderten die Arafat-Anhänger freien Abzug und Sicherheit für etwa zehn in Chatila verbliebene politische Kader, die nach Saida gebracht werden sollen.
Chatila, das im Jahre der israelischen Invasion 1982 Schauplatz eines Massakers libanesischer Falangisten war, wurde in dem anschließenden dreijährigen „Lagerkrieg“ gegen die von Syrien unterstützten schiitischen Amal-Milizen fast vollständig zerstört. Lediglich das Zentrum des Lagers war noch notdürftig bewohnbar. Die Gefechte zwischen Arafat -Anhängern und Gegnern gaben Chatila den Rest. Lebten während des „Lagerkrieges“ noch 490 Familien in Chatila, so waren es zuletzt nur noch knapp 25. Bekannte Arafat-Anhänger konnten das Lager nicht verlassen, weil sie sonst mit ihrer Festnahme rechnen mußten. Andere blieben, weil sie die Kämpfer nicht im Stich lassen wollten oder bereit zum Ausharren waren. „Wir kämpfen nicht um diese Ruinen, sondern für unsere Ehre. Es ist mein Lager, und ich lasse es nicht zu, daß hier jemand gewaltsam eindringt“, erklärte Emneh, Führerin der Palästinensischen Frauenunion, vor einigen Tagen gegenüber afp. „Vorher kämpften wir gegen die Amal, unseren gemeinsamen Feind“, sagte ein Fatah-Mitglied, „Heute müssen wir auf unsere Brüder schießen, denn Abu Moussas Anhänger sind auch Palästinenser. Das ist hart“. Nach seinen Angaben hat sich der Großteil der anderen palästinensischen Organisationen inzwischen aus Chatila zurückgezogen. Übrig bleiben somit zwei Gegner, die bis Frühjahr 1983 unter einem politischen Dach weilten. Damals hatte Fatah-Mitglied Abu Moussa gegen die Führung seiner Organisation rebelliert.
Diejenigen, die heute noch ausharren, verteidigen nur noch einen Trümmerhaufen. „Weniger als ein Prozent der Häuser stehen noch“, meinte ein Lagerbewohner telefonisch gegenüber afp. „Im Lagerkrieg setzte die Amal Panzerkononen ein, dieses Mal schießen unsere Gegner mit Granatwerfern. der Effekt ist derselbe. Systematisch wird eine Häuserzeile nach der anderen zerstört. Die Verwüstung ist komplett.“ Ein im Lagerinnern hergestellter Film zeigt, wie Fatah-Kämpfer aus einem abgebrannten Haus des Palästinensischen Roten Halbmonds Medikamente herausschleppen. Aus dem Gebäude steigt noch Rauch auf.
Die innerpalästinensischen Gefechte waren nach einem Versöhnungstreffen zwischen Syriens Staatschef Assad und Arafat im April ausgebrochen. Beobachter in Beirut befürchten jetzt, daß die Auseinandersetzungen auch auf die Palästinenserlage südöstlich von Saida ausbrechen könnten. Syrer, Palästinenser und die örtlichen Moslemischen Milizen haben ihre Truppen dort bereits in den Alarmzustand versetzt.
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