: Nur wenig änderte sich in Montevideo
■ Die Regierung festgeschweißt an der Seite der Militärs,Vetternwirtschaft und Klientelismus,keine einzige Abgeordnete im Parlament - Kontinuität allerorten
Die Regierung festgeschweißt an der Seite der Militärs, Vetternwirtschaft und Klientelismus, keine einzige Abgeordnete im Parlament - Kontinuität allerorten
Alles scheint beim Alten geblieben zu sein: an einem historischen Datum, dem 14.April, feierte die uruguayische Regierung „die Gefallenen in der Verteidigung der Institutionen“. Mit allen militärischen Ehren gedachten Staatspräsident Julio Maria Sanguinetti, seine Kabinettsmitglieder, Oppositionspolitiker zusammen mit der Generalität des Landes den vier Angehörigen der Todesschwadron, die am Vormittag des 14.April 1972 von einem Kommando der MLN-Tupamaros erschossen worden waren. Nicht gedacht wurde der acht Mitglieder der Stadtguerilla, die am Nachmittag des gleichen Tages von Sicherheitskräften ermordet worden waren. In stiller Eintracht standen neben der militärischen Ehrengarde etwa ein Dutzend junger, gutgenährter Männer in Zivil, die Hand zum deutschen Gruß erhoben, mit einem Spruchband „Tot dem Marxismus“. Auf Flugblättern mit Nazirunen stellten sie richtig, daß ihre Märtyrer keinesfalls bei der „Verteidigung der Institutionen“ gefallen seien, weil diese von der Subversion zerfressen waren.
Als hätte es niemals den März 1985 gegeben, als sich für die politischen Häftlinge die Gefängnistore geöffnet hatten und nach zwölf Jahren Militärdiktatur der gewählte Präsident Sanguinetti und seine Colorado-Partei „Nunca Mas“ - Nie Wieder! riefen. Doch drei Jahre haben ausgereicht, um die alten Verhältnisse auch optisch wieder herzustellen. Heute steht die regierende Colorado-Partei dort, wo sie immer stand, festgeschweißt an der Seite der Militärs und jener fünfhundert Familien, die das Land seit jeher beherrscht haben. Die Amnestie für die Folterer war für sie eine Ehrensache. Die Vergewaltigung einer Gefangenen könne nicht verwerflich sein, sofern sie der Informationsgewinnung und nicht der Befriedigung persönlicher Gelüste gedient habe, verteidigte der heutige Innenminister Antonio Marchesano öffentlich. Und als im Dezember den Behörden über eine halbe Million Unterschriften gegen das Amnestiegesetz übergeben wurden, reagierte die Regierung wie üblich mit einer autoritären Geste: Sie ernannte den früheren Oberkommandierenden der Diktatur, General Hugo Medina, zum Verteidigungsminister. Laut Meinungsumfragen wird bei der kommenden Volksabstimmung die Mehrheit für die Amnestie stimmen. Doch mit Umfragen läßt sich alles belegen, sie dienen wohl eher der Einschüchterung, heißt es bei der „Nationalen Kommission Pro Referendum“. Dort fühlt man sich sicher, denn die Ablehnung gegen alles, was Uniformen trägt, ist tief im Volk verwurzelt.
Beispiele: Der Volkszorn entlud sich, als der ehemalige Gefängnisarzt der Frauenhaftanstalt, Nelson Marabotto, bei der staatlichen Versicherung vorstellig wurde. Jemand glaubte, in ihm seinen früheren Folterer wiederzuerkennen, und plötzlich fielen Kunden wie Angestellte über den „Hurensohn“ her, bespuckten und schlugen ihn.
Oder: Da sitzt ein junges Mädchen in einem vollen Omnisbus. Ein „Milico“ setzt sich neben sie. Darauf steht das Mädchen auf und bleibt drei Meter von ihm entfernt im Gang stehen. Der Milico läuft rot an, und brüllt im Bus herum, ob er denn Körpergeruch habe. Die junge Frau sagt kein Wort, wendet sich angeekelt von ihm ab und bricht schließlich in Tränen aus. Die anderen Fahrgäste ergreifen demonstrativ Partei, reichen dem Mädchen ein Taschentuch und trösten. Mit dem Uniformträger wechselt keiner ein Wort. Der Sitzplatz neben ihm im randvollen Bus bleibt leer, bis er zwei Stationen später aussteigt.
Vorfahrt hat der Stärkere
Fahrpläne für die zahlreichen ausgebeulten Busse hat es in der Geschichte Montevideos noch nie gegeben. Die Stadtverwaltung empfiehlt, den Busfahrer fragen. Aber der zuckt nur mit den Achseln.
Wer sich selbst ans Steuer setzt, der muß schon ein echter Kader sein. Verkehrsregeln gibt es zwar theoretisch, aber nicht praktisch; Vorfahrt hat, wer stärker ist, der Bus vor dem PKW, der Daimler vor dem Fiat. Zweiräder, ob motorisiert oder mit Pedalen, sind nur etwas für Selbstmörder, und der Fußgänger muß zusehen, wie er sich rettet. Dabei ist der Verkehr keinesfalls so aggressiv wie auf der anderen Seite des Rio de la Plata, in Buenos Aires. Die Uruguayer beherrschen schlicht und einfach ihr Fahrzeug nicht. Es gibt zwei Sorten von Autofahrern: die einen, die ihren Hormonüberschuß mit dem rechten Fuß regulieren und mit 80 khm über die Schlaglöcher brausen, und dann sind da die zaghaften alten Herrschaften, die ängstlich am Lenkrad ihres Oldtimers klammern und sich an alte Zeiten erinnern, wo sie mit einer Pferdestärke oben auf dem Bock gesessen haben.
Zufallsprinzip
und Schlange stehen
Optisch hat sich die Stadt in den letzten zwanzig Jahren wenig verändert, es gibt keine Skyline oder monströsen Verwaltungsgebäude, es ist nur alles ein bißchen mehr heruntergekommen. Die Dekadenz der vierziger Jahre feiert fröhliche Urstände. Die Technik ist auf dem Niveau der „Jahre der fetten Kühe“ stehengeblieben: Stromausfälle können Minuten, aber auch Tage dauern, das Telephon funktioniert nach dem Zufallsprinzip. Manchmal muß man fünfmal wählen, bis man den richtigen Anschluß erwischt hat. Manche trifft es ganz hart. Da ist der Journalist Ernesto Gonzales Bermejo, der ab und zu für Schweizer Zeitungen schreibt. Er hat das Pech, daß seine zuständige Zentrale seit Jahren in einem Container untergebracht ist. Provisorisch, versteht sich. Gespräche aus dem Ausland zu empfangen, ist für ihn so gut wie unmöglich. Proteste nutzten nichts, man sei sich über das Problem bewußt, aber man könne nicht helfen, denn die hochmoderne Zentrale seines Bezirks sei unter den Militärs von einer französischen Firma geliefert worden, die leider die Wartung nicht übernommen habe.
In seinem Fall halfen keine Beziehungen - das Geheimrezept, nach dem die uruguayische Gesellschaft heute wie vor fünfzig Jahren funktioniert. Man braucht sie vor allem bei den „tramites“ - den nervenaufreibenden Behördengängen. Telephonisch können sie nicht geregelt werden, und sie nehmen viel viel Zeit in Anspruch. Warum sich auch beeilen, in einem Land, dessen Produktivität dem Nullpunkt entgegen tendiert? Uruguay ist heute ein Finanz- und Spekulationsparadies, in dem Banken und Wechselstuben wie Pilze aus dem Boden schießen. Eine Licht- oder Telephonrechnung allerdings kann per Überweisung nicht beglichen werden. Jeden Monat muß der Verbraucher vor dem Schalter Schlange stehen. Wer seinen Führerschein umschreiben will, braucht dafür einen geschlagenen Tag, um in der Stadtverwaltung an einem Dutzend verschiedener Pulte anzustehen. Niemand fühlt sich zuständig, den Urwald der überflüssigen Formulare zu ordnen. Das drei-Millionen-Volk (davon lebt die Hälfte in der Hauptstadt) leistet sich heute noch 600.000 Rentner und Pensionäre, und der öffentliche Dienst hat 250.000 Angestellte, davon 70.000 bei Polizei und Militär. Allein auf der Lohnliste der Stadtverwaltung Montevideos stehen 14.000 Personen, viele von ihnen haben noch nicht einmal einen eigenen Schreibtisch. Für einen Hungerlohn von ca. 200 DM reißt sich natürlich niemand ein Bein aus. Um nicht die ganze Härte der „Tramites“ zu spüren zu bekommen, empfieht es sich, im Amt einen Companero - oder noch besser - einen Verwandten zu haben, der wird seinen Arbeitstag gerne opfern und Schlangestehen ersparen. Es regieren Vetternwirtschaft und Klientelismus. Die Türen öffnen sich, wenn die Visitenkarte eines Abgeordneten der Colorado-Partei gezückt wird. Dafür war das kleine Land schon immer berüchtigt seit den Zeiten des früheren Präsidenten Jose Batlle y Ordonez, der Anfang des Jahrhunderts die katholische Kirche entmachtete und eine der vorbildlichsten Sozialgesetzgebung erließ. Damals wurde den Frauen, ohne daß sie dafür gekämpft hatten, das Wahlrecht zugestanden. Doch an ihrer traditionellen Rolle änderte das wenig, frau ließ sich wegheiraten und versorgen. In den letzten Jahren müssen viele aus ökonomischen Gründen mitarbeiten, aber sie bekommen nur die Jobs, die die Männer nicht wollen, als Hausangestellte, Verkäuferinnen oder Lehrerinnen.
Hotels mit hoher Rotation
Kontinuität allerorten. Das Wort „Feministin“ ist in Uruguay, wie in vielen anderen südamerikanischen Ländern, eher ein Schimpfwort. Die europäischen Feministinnen werden als Lesben verdächtigt, die den politischen Kampf gegen den Kampf der Geschlechter ausgetauscht hätten. Hier in Montevideo - so heißt es immer wieder - wolle man zusammen mit den Männern und nicht gegen sie kämpfen. Klassische Frauenthemen werden nicht diskutiert, auch nicht von den politisch aktiven Frauen. Abtreibung ist illegal, aber, meist unter katastrophalen hygienischen Verhältnissen, an der Tagesordnung. Aber niemand fordert ihre Legalisierung. Das Problem wird als solches nicht zur Kenntnis genommen, bestenfalls als Nebenwiderspruch abgetan. Es gibt nicht eine einzige weibliche Abgeordnete im Parlament, noch nicht einmal ein Alibi hat man nötig. Und auch bei der linken Presse schreiben Journalistinnen nur über Soziales, Außenpolitik und Kommentare sind fest in männlicher Hand.
Ansätze für einen anderen Weg hat es schon einmal gegeben, Ende der sechziger Jahre bei der Stadtguerilla. „Nie ist eine Frau gleichberechtigter als mit einer 45-er in der Hand“, so hieß damals eine Parole der Tupamaros, über die sich freilich streiten läßt, denn bei ihnen waren zwar viele Frauen, aber nur wenige in Führungspositionen. Auch heute noch sind in ihrem Zentralkomitee nur wenige Companeras, viele von ihnen sind inzwischen ins Privatleben abgedriftet. Nach zwölf Jahren Gefängnis sind sie jetzt Mitte oder Ende dreißig, und da wird es mit dem Kinderkriegen höchste Zeit. Und auch in einem revolutionären Haushalt bleibt fast immer die Frau zu Hause, um den Nachwuchs zu hüten.
Wohngemeinschaften gibt es kaum, denn noch ist die Heirat der Weg des geringsten Widerstandes, um das Elternhaus zu verlassen. Und bis dahin gehen die Verlobten, wie schon ihre Eltern, in eines der unzähligen Stundenhotels, in die „Hotels mit hoher Rotation“, so ihre vornehme Bezeichnung.
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