Ein Sack Zucker

■ Der sowjetische Dichter Jewgenij Jewtuschenko über den Hauptfeind der Perestroika: „Priterpelost“ - die Fügsamkeit

Jewgenij Jewtuschenko

Zu den bemerkenswertesten Artikeln seit Glasnost gehört der Essay „Wir erniedrigen uns selbst“, der im Mai in der 'Literaturnaya Gazeta‘ erschien. Im Folgenden Auszüge:

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich zum ersten Mal das zutiefst russische, auf tragische Weise allumfassende Wort „Priterpelost“ (etwa: Fügsamkeit) gehört habe. In letzter Zeit habe ich es oft im Sinn.

„Verzeihen Sie das Geschenk, Jewgeni Alexandrowich, aber heutzutage ist es etwas Wertvolles“, sagte eine entfernte Verwandte, als sie am 1.Mai-Feiertag einen Sack Zucker, etwas, was fast unmöglich zu bekommen ist, auf unseren Tisch stellte. Dies geschah im 71.Jahr der sowjetischen Macht, mehr als 40 Jahre nach dem Krieg! Und plötzlich ertappte ich mich bei jenem trivialen, häuslichen, räuberischen Glücksgefühl des Beutemachens, das für so viele von uns echte Lebensfreude ersetzt. Die Frau seufzte und sagte: „Schau, so weit ist es mit uns gekommen ... Und an allem ist nur unser verdammtes „Priterpelost“ schuld ...“

Ich könnte es nicht besser sagen. Das Wort bedeutet Respekt vor der Geduld. Es gibt Geduld und Toleranz, die Respekt verdient - die Geduld einer Frau in den Geburtswehen, die Geduld wirklich kreativer Menschen bei der Arbeit, die Geduld von Menschen, die unter der Folter nicht die Namen ihrer Freunde preisgeben. Aber es gibt auch sinnlose, demütigende Geduld. Wie können wir uns selbst respektieren, wenn wir diese Respektlosigkeit uns gegenüber tagtäglich zulassen? Jede Warteschlange, jede Verknappung an Konsumgütern zeigt den Mangel an Achtung unserer Gesellschaft sich selbst gegenüber.

Wir sind daran gewöhnt, andere, allen voran die Regierung für Engpässe und andere Probleme verantwortlich zu machen. Jetzt haben wir Gott sei Dank begonnen, nicht nur von Stalins persönlicher Schuld zu sprechen, sondern auch von der Schuld seiner Gefolgschaft an den Verbrechen dem Volk gegenüber. Wir sollten ehrlich sein und zugeben, daß es nicht nur der Regierungsklüngel war, der Schuld hatte, sondern auch das Volk, das diesem Klüngel gestattete zu tun, was ihm beliebte. Verbrechen zuzulassen ist eine Form von Beteiligung daran, und historisch betrachtet sind wir daran gewöhnt, sie zuzulassen. Das ist „Priterpelost“. Es ist an der Zeit, damit aufzuhören, alles auf die Bürokratie zu schieben. Wenn wir uns damit abfinden, dann verdienen wir sie auch.

Nehmen wir eine scheinbare Bagatelle, das Verschwinden des Zuckers. Wer ist schuld daran? Das Zentralkomitee? Der Ministerrat? Natürlich sind sie schuldig. Aber sind es nicht auch Du und ich? Wir haben das Verschwinden einer Sache nach der anderen hingenommen. Wie können wir überrascht sein, daß wir das Verschwinden relativ unwichtiger Dinge hinnehmen, wenn wir gestern noch das Verschwinden so vieler Menschen akzeptiert haben?

Wir sollten nach den Gründen suchen, warum Zucker ein so immens wertvolles Geschenk ist am Tag der internationalen Solidarität der Arbeiter. Unsere neuen Führer blickten der statistischen Wahrheit über Alkoholismus und seine Folgen furchtlos ins Auge. Sie schnappten nach Luft. Es wurde eine harte, radikale Entscheidung getroffen. Aber die berechtigte Erregung wurde unglücklicherweise nicht von einem langfristigen, gut ausgearbeiteten Plan getragen. Eine Schein-Diskussion wurde organisiert - auf die übliche Weise, indem man Befürworter beischaffte.

Manchmal denke ich voller Bitterkeit: Was wäre, wenn die Ausgabe der 'Prawda‘ am 1.April eine Partei- und Regierungsresolution veröffentlichte, die zu einer Kampagne gegen die Nüchternheit aufruft? Ich bin überzeugt, daß „treue Kämpfer der Partei“ sofort „Massenversammlungen der Arbeiter“ zur Unterstützung dieser „historischen Versammlung“ organsieren würden. Tapfere Verkehrspolizisten würden voller Begeisterung die Führerscheine aller Autofahrer einziehen, die nicht nach Wodka stinken. Ich stelle mir die Schauprozesse gegen Nichttrinker vor, die Denunziationen von Parteimitgliedern, die in Restaurants beim unmoralischen Trinken von Mineralwasser beobachtet wurden.

Eine Methode, die Perestroika zu verlangsamen, ist Sabotage in der Verkleidung der Unterstützung. Eine zweite ist Ersticken durch Umarmen. Der im Prinzip richtige Gedanke, den Alkoholismus zu bekämpfen, wurde durch stürmische Umarmungen erstickt und durch verzerrten, verlogenen Enthusiasmus ruiniert. Eine Flasche „Weißer Blitz“ kann einen Mann vergiften. Eine Flasche guten Weines kann ein Essen angenehm begleiten. Aber unsere Weinproduktion wurde sofort eingeschränkt; wertvolle Weinberge wurden unbarmherzig niedergemacht. Alkoholismus ist ein für die Gesellschaft gefährlicher Zustand, der durch Strafe gahndet werden sollte. Aber mit welcher Berechtigung verwehrt man einem Mann, der kein Alkoholiker ist, das Recht auf seinen Krug Bier am Feierabend, auf sein Glas reinen Wein oder Sekt?

Warum wurde die gesamte Nation des Alkoholismus verdächtigt, und warum muß sie jetzt, nach dem Warten in vielen anderen, demütigenden Schlangen, noch viel mehr Stunden anstehen? Der Grund liegt in unserer Hinnahme der gedankenlosen Durchführung aller Entscheidungen. In den Warteschlangen werden nicht nur Zeit und geistige Gesundheit vernichtet: Es werden Menschen vernichtet. Die ersten, durchgreifenden Anti-Alkoholismus-Maßnahmen wirkten als positive Schocktherapie. Aber man kann keine tägliche soziale Schocktherapie durchführen; das gesellschaftliche Nervensystem bricht zusammen und viele verdeckte Geschwüre werden bloßgelegt.

Der Feldzug gegen den Alkoholismus wurde zu einem Feldzug gegen staatlichen Wodka, staatlichen Wein, staatliches Bier. Staatlich produzierter Wodka oder Wein, deren Qualität in den letzten Jahren zwar gesunken ist, aber noch immer staatlichen Normen unterliegt, ist dem schwarzgebrannten Alkohol gewichen, der aus weiß der Teufel was hergestellt wird, nicht zuletzt aus Rasierwasser und Hornhautentferner. Ich mußzugeben, daß ich einmal in einer Nacht in Kamchatka, durchgefroren bis auf die Knochen, einen aus Tomatenmark hergestellten örtlichen Schwarzgebrannten gekippt habe. Am nächsten Tag waren meine Füße so schmerzhaft angeschwollen, daß ich am liebsten geschrieen hätte. Der Arzt, der mir eine Spritze gab, stellte die korrekte Diagnose: „Unser berühmtes Tomatengebräu.“

Wie können wir überrascht sein, daß Zucker plötzlich knapp geworden ist? Er mußte zwangsläufig verschwinden, und hätte nicht die Gesellschaft als Ganzes, hätten also nicht du und ich dies voraussehen müssen, und nicht nur die Regierung allein? Die Gesellschaft braucht nicht nur weitblickende, sondern auch vorausschauende Menschen. Die einzig wahre demokratische Gesellschaft ist jene, die sich von unten nach oben regiert fühlt - und nicht von der Spitze regiert wird, auf ihre Befehle wartend, um sie dann für alle Fehler verantwortlich zu machen. Der kapitulierende Wahlspruch der Passivität lautet: „Ich bin nur ein kleiner Mann, was kann ich schon ausrichten?“ Aber wenn man seine Feigheit schon rechtfertigt, indem man sagt, man könne nichts tun, dann darf man auch nicht jammern und quengeln. Wir töten die Perestroika mit ziviler Unbesonnenheit und warten hinter den Kulissen, um zu sehen, welche Seite gewinnt.

Perestroika ist das, was wir sind. Wenn wir nur den halben Weg gehen, haben wir eine Semi-Perestroika. Wenn wir sie aus dem verrotteten Holz der Arbeitslager aufbauen, dann wird die Perestroika zusammenfallen. Wenn wir alle die Decke in unsere Richtung ziehen, dann wird die Perestroika erfrieren. Was wir unternehmen, um den eigenen, gemütlichen Sessel zu sichern, ist nicht Perestroika, sondern Bequemlichkeit. Zwischen den Pro- und den Anti-Perestroikanern gibt es leider noch eine große Gruppe, die ich 'Ianer‘ nenne. Es sind diejenigen, die ständig jammern über den Mangel an Zucker und anderen Dingen, aber nie einen Finger krumm machen, um jene aufzuhalten, die die Perestroika umbringen möchten. Es ist Zeit, daß die Leute endlich begreifen, daß es nicht zwei unterschiedliche Perestroikas gibt, eine materielle und eine politische. Ohne den Willen zur Verteidigung der Demokratie ist es sinnlos, sie zu fordern.

„Geduld erweicht einen Stein“, sagt ein altes Sprichwort. 300 Jahre unter den Tataren und 300 Jahre unter den Romanovs brachten sowohl heroische Ausdauer hervor, die sich in Volksaufständen offenbarte, als auch Fügsamkeit, 'Priterpelost‘. Rußland ist das letzte europäische Land, das die Leibeigenen befreite. Fast ohne jede Erfahrung der bürgerlichen Demokratie stürzte es sich in den Sozialismus.

Die Wanzen des Feudalismus und der Unterwürfigkeit wurden in Holzkoffern aus den Dorfhütten in die Kommunalwohnungen getragen. Viele Chefs benahmen sich wie 'rote Feudalherren‘, indem sie den Bauern nicht nur das Land, sondern auch ihre Pässe abnahmen - und das riecht wirklich nach Leibeigenschaft. Stalins erzwungene Kollektivierung war eine plumpe Verhöhnung der Parolen „Das Land den Bauern“ und „Alle Macht den Sowjets“.

Nach und nach wuchs die Toleranz für viele Dinge, für Unterdrückung, willkürliche Steuern, erpreßte Unterschrifen, den Eisernen Vorhang, die Demütigung von Wissenschaftlern, Komponisten und Schriftstellern. Die besten Leute fielen den Säuberungsaktionen zum Opfer. Es war wie in einem Alptraum, in dem eine Bande nachts mit Äxten durch die Stallungen schleicht, entschlossen, alle reinrassigen Pferde zu töten. Die Pferde als solche haben überlebt, aber viele von ihnen wurden zu Pferden mit der psychologischen Struktur von Mäusen. Wir müssen noch viel mehr tun, um unsere Menschlichkeit, die solche Verluste erlitten hat, wiederherzustellen. Wir dürfen uns nicht erlauben, unsere eigene Geduld zu tolerieren. 'Priterpelost‘ ist das Haupthindernis auf dem Weg zur Perestroika.

'Priterpelost‘ ist die Kapitulation vor immerwährenden Erniedrigungen. Zuerst erniedrigen wir uns, um eine Wohnung zu bekommen. Wir erniedrigen uns im Dschungel der Läden auf der Jagd nach Tapeten, Mischbatterien, Wasserhähnen, Klosettschüsseln, Türschlösssern. Der Anblick einer jugoslawischen Lampe oder einer rumänischen Bettcouch läßt unsere Augen aufleuchten wie die des Tigers Shere Khan, wenn er die Krallen in die heißersehnte Antilope schlägt. Wenn ein Kind geboren wird, erniedrigen wir uns für Kondertagesstätten und Kindergärten, für Schnuller, Strampelanzüge, Papierwindeln, Kinderwägen, Schlitten und Laufställe. Wir erniedrigen uns in den Geschäften, beim Frisör, beim Schneider, der Reinigung, in Autowerkstätten, Restaurants, Hotels, an den Theaterkassen und Aeroflotschaltern, den Reparaturwerkstätten für Fernseher, Kühlschränke und Nähmaschinen - wir schlucken unseren Stolz hinunter, schmeicheln, dann toben wir, um erneut zu schmeicheln. Wir verbringen unsere gesamte Zeit damit, etwas aufzutreiben. Es ist erniedrigend, daß wir uns noch immer nicht selbst ernähren können, und Brot, Butter, Fleisch, Obst und Gemüse im Ausland kaufen müssen.

Es ist erniedrigend, daß wir uns nicht anständig kleiden können und ausländischen Waren nachjagen. Wir sollten Kleidung und Schuhe produzieren, bei denen man sich nicht schämen muß, sie zu tragen. Es ist demütigend, daß wir immer noch nicht genügend Medikamente haben, um unsere eigenen Leute zu behandeln.

Der Mangel an Büchern ist erniedrigend - ein Verrat am menschlichen Geist.

Die Knappheit an Computern ist erniedrigend - ein Verrat des modernen technologischen Gedankens.

Das System der Auslandsreisen ist erniedrigend, trotz aller Versprechungen, es zu vereinfachen. Die Tore sollten weit geöffnet werden für alle, die für immer gehen möchten, mit Ausnahme der wenigen, die für die Staatssicherheit arbeiten. Es ist demütigend, Menschen mit Gewalt festzuhalten. Man darf jene, die gehen, nicht als Feinde bezeichnen. Und wenn sie ihre Heimat nicht auf irgendeine Art beleidigt haben, dann sollten sie in der Lage sein, zurückzukehren, für einen Besuch oder für immer. Warum sollten nicht alle Bürger der UdSSR einen Paß für Auslandsreisen erhalten, der für drei Jahre gültig ist und zu Geschäfts- und Vergnügungsreisen oder Verwandtenbesuchen berechtigt?

Am schlimmsten ist es, wenn wir, selbst erniedrigt, anfangen, andere zu erniedrigen. Die Erniedrigung anderer ist eine schreckliche Sucht.

Glasnost ist eine Kriegserklärung an die immerwährende Erniedrigung. Glasnost ist der Kampf für die soziale Würde des Menschen. Der Mensch hat das Recht, die Musik zu lieben, die er mag, sich zu kleiden, wie er möchte und die Haare zu tragen, wie es ihm gefällt.

Die Kritiker der Perestroika versuchen, Glasnost zu verleumden als Absage an die Leistungen des Sozialismus. Aber Glasnost selbst ist eine Errungenschaft des Sozialismus. Die Perestroika der Wirtschaft wird wie Glasnost in Verruf gebracht, behindert, eingeschüchtert, ausgelaugt. In der Wirtschaft wie in der Literatur gibt es heilige Kühe, die vorgeben, das nationale Interesse zu verteidigen und doch nur ihre eigenen Interessen schützen. Heute muß Glasnost der Wirtschaft helfen. Morgen, wenn Glasnost selbst in Schwierigkeiten steckt, wird die starke Schulter eines neuen Wirtschaftssystems Halt bieten. Ohne Eigeninitiative werden wir nicht vorankommen, weder mit Glasnost noch mit der Wirtschaft.

Der Eiserne Vorhang zwischen Ost und West schuf über viele Jahre hinweg ein Bild unseres Landes, das sowohl anziehend als auch abschreckend war. Die großen Taten unseres Volkes im Krieg gegen Hitler gaben diesem Bild eine Aura des Heroismus. Chrustschows Tauwetter fügte Hoffnungsstreifen auf ein gegenseitiges Einverständnis hinzu. Die schreckliche Wahrheit der stalinistischen Lager, die Verhaftung der Dissidenten, der Mißbrauch der Psychiatrie, die Verbannung des Akademikers Andrej Sacharow, die Anwesenheit unserer Truppen in Afghanistan - akribisch aufgezählt und über alle Maßen aufgebauscht von reaktionären Elementen der westlichen Presse - trugen dazu bei, die heroische Aura zu zerstören und unser Bild auf das des Antichristen und des „Reiches des Bösen“ zu degradieren. Dank der friedlichen Initiative unseres Landes für nukleare Abrüstung, dank Glasnost und Demokratisierung wurde dieses Image des Antichristen zerstört.

Wir brauchen kein Make-up und keine Maske auf unserem Gesicht, um Ausländer zu beeindrucken oder uns bei ihnen beliebt zu machen. Natürlich möchte ich, daß unser Land von allen Menschen geliebt wird - nicht für die Lügen, sondern für die Wahrheit, die es ans Licht der Welt bringt. Aber am meisten wünsche ich mir, daß unser Land sich selbst liebt. Wir lieben es und sind stolz auf seine Traditionen. Aber nicht alle Traditionen sind gut. Und „Priterpelost“ ist eine schlechte Tradition, unvereinbar mit der Perestroika: von ihr müssen wir uns freimachen.

Zuerst erschienen im 'Time Magazine‘ vom 27.Juni 1988. Aus dem Englischen von Anne Gebhardt. Wir danken Jewgenij Jewtuschenko für die Abdruckgenehmigung.