: Bitterer Erfolg für Sprengel-Besetzer
BesetzerInnen der ehemaligen Schokoladenfabrik in Hannover einigen sich mit der Stadtverwaltung / Die Stadt behält Besitz über das Gelände / Wohnrechtsverträge für 50 BesetzerInnen / Einrichtung eines alternativen Projekts geplant ■ Aus Hannover Jürgen Voges
Sechs bange Stunden haben am Donnerstag 150 bunthaarige junge Leute in abgewetzten dunklen Klamotten und etwa zwei Dutzend ältere Symphatisanten neben der ehemaligen „Bürgerschule“ auf dem Parkplatz ausgeharrt. Hier geht es auch zur „Sturmglocke“, der bunt bemalten Kneipe des besetzten Sprengel-Geländes. Rechts zeigt ein hoher Metallzaun mit Stacheldraht, daß dahinter das 16.000 Quadratmeter große Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik beginnt. Zweimal hat sich in diesen sechs Stunden ein Großteil der jungen Frauen und Männer zum Besetzerplenum in einen hinteren Raum der „Sturmglocke“ zurückgezogen, und alle aus dem Plenum haben sich bis zum Schluß über den Stand der Verhandlungen ausgeschwiegen, die drinnen im Stadtteilzentrum „Bürgerschule“ eine neunköpfige Besetzerdelegation und der hannoversche Oberstadtdirektor Hinrich Lehmann-Grube geführt haben.
Nun, nachdem der Oberstadtdirektor im „Presseraum“ der Bürgerschule die zehn Punkte der besiegelten Vereinbarung vorgelesen hat, wissen die sich in dem kleinen Raum drängenden Besetzer nicht, ob sie sich freuen oder trauern sollen. Rechts von Lehmann-Grube grinsen drei junge Männer breit, doch bei anderen fließen Tränen. „Die heulen natürlich auch aus Streß, die letzten 14 Tage haben wir nur debattiert“, sagt ein Besetzer, dessen zerissene Hose mit der modernen Videokamera kontrastiert, mit der er das Geschehen festhält.
„Die Besetzung des Geländes wird bis Freitag, den 8.Juli 1988, acht Uhr aufgehoben. Die Stadt erhält uneingeschränkt den Besitz über das Gelände“, kann der Oberstadtdirketor als ersten Punkt der Vereinbarung verkünden. Im Gegenzug hat sich die Stadt verpflichtet, „mit bis zu fünfzig namentlich zu benennenden Personen aus dem Kreise der Besetzer Leihverträge“ abzuschließen, die ihnen „ein Wohnrecht“ in einem der sieben Sprengelgebäude sichert. Verträge will die Stadt auch über die Nutzung der Räume im ehemaligen „Sozialtrakt“ der Schokoladenfabrik abschließen, einem flacheren Bau, der sich quer über das besetzte Gelände zieht. Hier können Fahrrad- und Autowerkstätten, das runde Dutzend freier Künstler, die auf dem Gelände Ateliers eingerichtet haben, das Frauencafe und andere Projekte erst einmal bleiben. Denn nur für eine Übergangszeit sollen diese Verträge mit der Stadt gelten. Solange, bis das mit 6.300 Quadratmetern größte Gebäude der Fabrik zu einem „Projekt für alternatives Wohnen und Arbeiten“ umgebaut ist. Den Besetzern sichert der Vertrag für die Zukunft ein vorrangiges Nutzungsrecht an dem Gebäude zu.
Viele Stadtteilbewohner, die die Besetzer unterstützen, meinen, daß die Besetzer einen solchen Nutzungsvertrag auch schon im März hätten abschließen können. Doch die junge Frau mit den blau-rot gefärbten Haaren, die nach dem Oberstadtdirektor die Pressekonferenz fortführt, schreit in eines der Mikrophone: „Wir haben uns auf den beschissensten Vertrag überhaupt eingelassen, nur um einen Abriß zu verhindern. Mit Sicherheit hat uns Lehmann-Grube hier erpreßt.“ Der Oberstadtdirektor hatte in den Verhandlungen von vornherein damit gedroht, daß ohne eine Einigung am Freitag morgen der „Countdown der Räumung“ beginnen werde. Polizeikräfte aus dem gesamten norddeutschen Raum und aus Berlin hatte Innenminister Wilfried Hasselmann bereits angefordert.
Lehmann-Grube drohte damit, daß nach der Räumung die fünf Gebäude, für die es bisher keine Bestandsgarantie gibt, sofort abgerissen würden. Und schließlich ging der Oberstadtdirektor mit einem Vertragsangebot in die Verhandlungen, das die Besetzer auch nur als „Räumung auf kaltem Wege“ interpretieren konnten. Nur 20 Besetzern wollte Hinrich Lehmann-Grube ein Übergangswohnrecht bis zur Fertigstellung des Alternativprojektes im Sprengelhauptgebäude zugestehen. So feilschte man in den Verhandlungen vor allem um die Zahl der Besetzer, die auf dem Gelände bleiben dürfen.
„Ich wollte die Zahl der Personen, die ein Wohnrecht bekommen, so gering halten, daß sie auch für die Stadt überschaubar und kontrollierbar wird“, sagte der Oberstadtdirektor unverblümt nach dem Vertragsabschluß. Die Besetzer glauben allerdings, daß sie sich über die 50 schon einigen werden. Daß diese mit Einzelpersonen geschlossen werden müssen, und daß diese Personen bis heute mittag um zwölf unterschrieben haben müssen, ist für sie „die dickste Kröte“, die sie haben schlucken müssen. „Damit ist es mit der Offenheit auf dem Sprengel vorbei, daß jeder kommen oder gehen kann, wann er will, daß man jedem sagen kann, mach was du vorhast“, sagte einer aus der Verhandlungsdelegation.
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