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„Ich kann nichts als Briefe schreiben...“

Rahel Varnhagen hat Konjunktur: allein in jüngster Zeit beschäftigen sich vier Neuerscheinungen mit der jüdischen Schriftstellerin Immer noch überwiegen konventionelle Interpretationen: Varnhagen ist nicht als Autorin interessant, sondern als „historische Frauenfigur“  ■  Von Birgit Bosold

Rahel Levin Varnhagen, 1771 in Berlin geborene und 1833 dort gestorbene jüdische Schriftstellerin steht im Mittelpunkt gleich mehrerer Neuerscheinungen der letzten Zeit. Mit einer Ausnahme lassen sich jedoch alle vier Titel leicht einschlägigen kulturellen Konjunkturen zuordnen. Das wiedererwachte Interesse an der „Romantik“ einerseits und an „Frauen-Geschichte“ andererseits, ist eher dazu geeignet, die Brisanz dieser „Wiederentdeckung“ zu erledigen. Denn keineswegs trifft dieses Interesse eine Unbekannte. Als interessante Figur der Kulturgeschichte, als berühmte Saloniere und ungewöhnliche Persönlichkeit war sie immer schon tradierbar, nicht aber als Schriftstellerin. Dieses Schicksal, als historische Figur überliefert zu werden, ohne daß das „Werk“ rezipiert wurde, teilt sie mit vielen Frauen der Goethezeit, z.B. mit Bettina von Arnim oder Dorothea Schlegel. Ihre Texte - Briefe - sind der Literaturwissenschaft nicht als literarische Werke lesbar, sondern dienen als biographische Quellen zur Rekonstruktion des Lebens ihrer Schreiberinnen und deren berühmten Ehegatten, Liebhaber oder Freunde. Aber nicht nur das Genre ihrer literarischen Produktion arbeitet gegen die Erforschung und Edition der Schriften Rahels; daß sie Jüdin war, ist ein vielleicht viel schwerwiegenderes Manko. Denn wär hätte sie tradieren sollen, wenn die deutschen Universitäten Frauen und Juden über lange Zeit ausschlossen?

Nicht von ungefähr fand erst 1985 ein erstes wissenschaftliches Kolloquium über sie statt und wohl ebenso nicht zufällig im Ausland - in Turin. Organisiert wurde das Treffen von einer an der Edition der ungedruckten Briefe Rahels arbeitenden Arbeitsgruppe; dokumentiert sind die Beiträge der Tagung in dem von Barbara Hahn und Ursula Isselstein herausgegebenen Band „Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin“. Sie befassen sich unter anderem mit den seit Ende des Ersten Weltkrieges verschollenen und Ende der 70er in der Krakauer Bibliotka Jagiellonska wieder aufgefundenen Handschriften der Sammlung Varnhagen, einem der bedeutendsten Handschriftenarchive des 19.Jahrhundert, in dem u.a. die Korrespondenzen Rahels aufbewahrt sind.

Damit ist bereits der Haupteinwand gegen die von Marlis Gerhardt herausgegebene Ausgabe des Briefwechsels Rahel Varnhagens mit Pauline Wiesel formuliert. Als Auswahl bereits veröffentlichter Briefe war sie schon bei ihrem Erscheinen veraltet. Die Nichtberücksichtigung des Krakauer Materials ist umso bedauerlicher, als die Korrespondenz Rahels mit ihrer besten Freundin sicher zu den interessantesten Konvoluten der Sammlung gehört. Nicht nur, weil Pauline ein sehr ungewöhnliches Leben außerhalb eines Familienverbands führte und dafür als „Kokotte“ verschrien war, und auch nicht nur wegen der Spannbreite und Extravaganz der Themen - die beiden Frauen verhandeln neben Lektüren, Theateraufführungen und Ausstellungen auch politische und soziale Fragen, beispielsweise die Julirevolution 1830 - sind die Briefe ungewöhnlich, sondern sehr viel prinzipieller: Es sind „Briefe in einem radikalen Sinn“, so Barbara Hahn im Tagungsband über den Briefwechsel, „alle Probleme der postalischen Kommunikation werden ebenso thematisiert wie praktiziert.“ Reduktion auf die Biographie

Die Schreiberinnen inszenieren ihre Briefe nicht als unmittelbaren Ausdruck ihres „Lebens“ und unterlaufen damit die Regeln des Genres, zu dessen Expertinnen die Frauen, als Platzhalterinnen des „Lebens“, der „Authenzität“ oder mit einem zeitgenössischen Ausdruck, der „Natürlichkeit“, gerade avanciert waren. Als Simulation des mündlichen Gesprächs hatte man den Brief in der Nähe der gesprochenen Sprache angesiedelt, die als Garant eines „authentischen Selbstausdrucks“ gegenüber dem geschriebenen Wort wird. Die Schrift wird zum sekundären, „uneigentlichen“, den gemeinten Sinn nur ungenügend transportierenden Derivat der mündlichen Rede. Demgegenüber artikuliert keine der beiden Schreiberinnen jemals, daß der geschriebene Text des Briefes nicht enthalte, was sie „eigentlich“ habe sagen wollen. Deshalb muß die Nachträglichkeit, die allem Schreiben eignet, nicht zugunsten einer fiktiven Unmittelbarkeit imaginär übersprungen werden, sondern ist immer schon vorausgesetzt. Denn als der Briefwechsel beginnt, ist die gemeinsame Zeit der beiden Frauen schon vorbei. Die Erinnerungen an diese Vergangenheit werden jedoch nicht zu einer Geschichte komprimiert und damit der Vergangenheit übergeben, sondern als „Erinnerungspur“ bewahrt. Als Namen von Orten oder Personen oder als Chiffren nicht erzählbarer Erinnerungen wechseln Signalworte hin und her, die es abzurufen genügt und über die nichts weiter geschrieben werden muß. Die Briefe werden also nicht nur nach dem Schreiben verschickt und damit einem äußerlichen Prozeß der Übermittlung ausgesetzt, sondern „sie tragen diese Übermittlung in sich, sie praktizieren den Mechanismus der Korrespondenz“ (Barbara Hahn).

Die irritierende Faszination der Briefe nimmt die sehr konventionelle Lektion, die Marlis Gerhardt in ihrem Nachwort vorschlägt, nicht einmal wahr. Indem sie nicht über die Texte sondern über ihre Schreiberin Pauline Wiesel spricht, liest sie die Briefe wieder nur als biographische Dokumente. Dem Mythos der älteren Wiesel-Biographie, die Pauline als „femme fatal“ entworfen hatte, setzte sie einen neuen, an feministischen Strickmustern oritentierten entgegen: die Rebellin gegen die Konventionen bürgerlicher Weiblichkeit und ihre vom „Gesetz des Vaters bestimmte Moral“. Damit das Bild stimmt, wird der Ehemann Rahels, Karl August Varnhagen, der sich als Nachlaßverwalter und Editor der Schriften Rahels betätigte, zum „Oberzensor“, der alles daran setzte, aus dem „Briefwechsel zweier schonungslos sich selbst Aufklärenden eine romantische Seelenfreundschaft herauszudestilieren“. Woher Gerhardt das wissen kann, bleibt fraglich, denn - Ironie der Geschichte - ihre Auswahl der Briefe stützt sich ausschließlich auf von Varnhagen zum Druck vorbereitetes Material. Banalitäten

Unter dem Titel „Briefe an eine Freundin“ legt die amerikanische Historikerin Deborah Hertz die bisher ungedruckten Briefe Rahels an Rebecca Friedländer vor. Sie hält sie unter anderem bezüglich zweier Problematiken für aufschlußreich: Beide Schreiberinnen befanden sich als assimilierte Jüdinnen, die aufgrund des gesellschaftlichen Rollbacks in der Zeit der napoleonischen Kriege zunehmend ins soziale Abseits gerieten, in einer ähnlichen Situation, und beide Frauen bestätigen sich schriftstellerisch. Die eine - Rahel - als geniale Dilettantin, die andere als Berufsschriftstellerin, wenn auch mit eher mittelmäßigem Erfolg. Liest man die Briefe, so entsprechen sie den Erwartungen nicht. Statt dessen verhandeln sie in endlosen Wiederholungen immer dieselben Banalitäten: die Krankheiten, das Wetter, Dienstbotenprobleme, Alltagssorgen und immer wieder Krankheiten . Sie sind salopp gesagt, langweilig.

Nimmt man das jedoch als Indiz für die Schwierigkeit, diese Texte zu lesen, so ist der Gestus der Einleitung unverständlich und ärgerlich. Nichts wird zum Problem: nicht die öffentliche Banalität der Texte; nicht, daß sozusagen nur ein halber Text vorliegt, denn die Antworten der Friedländer sind verloren, und auch nicht die Frage, warum sich die beiden Fraen nahezu täglich schrieben, wo sie doch nur etwa fünf Kilometer voneinander entfernt wohnten und sich alle zwei Tage besuchten. Statt dessen spekuliert Deborah Hertz in ihrer Einleitung beispielsweise darüber, ob die beiden Frauen ein lesbisches Verhältnis gehabt hätten: „Aus guten Gründen erscheint es jeoch ratsam, auf derlei umstrittene Bezeichnungen ganz zu verzichten und stattdessen diese Beziehung nicht lesbisch sondern romantisch zu nennen.“ Die Banalitäten der Briefe finden in denen des Kommentars fatalerweise ihre Fortsetzung.

Demgegenüber besticht die Monographie Heidi Thomann -Tewarsons durch ihre unaufwendige, unideologische Darstellungsweise. Materialreich und detailliert recherchiert und mit einer Fülle sehr interessanter und wenig bekannter Abbildungen versehen, ist diese Studie - als rororo-Bildmonographie gut erreichbar - als Einstiegslektüre empfehlenswert. Leider werden jedoch die theoretischen Implikate der Krakauer Funde, die belegen, daß Rahel ihre eigenen Schriften zum Druck vorbereitet hat, nicht durchgehalten. Aus der „Autorin“, als die Rahel zurecht in der Einleitung bezeichnet wird, wird einige Zeilen später dann doch wieder die klassische Briefschreiberin, die ihrem Leben quasi natürlicherweise in Briefen authentischen Ausdruck verleiht. Dies ist jedoch nicht einfach eine „Inkonsequenz“, sondern Effekt der biographischen Darstellungsweise, die aus Texten - nichts anderes sind die etwa 6.000 in der Sammlung Varnhagen bewahrten Briefe mitsamt ihrer Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte immer nur wieder „Leben“ destilliert. Neue Ansätze

Auf diesem Hintergrund kann man den schon genannten Tagungsband lesen, nicht als Rekonstruktion einer historischen Figur „Rahel“, sondern als Rekonstruktion einer Problematik, die ihre Texte zu denken aufgeben. Die Anlage des Bandes legt eine solche Lesart nahe, denn neben den Beiträgen, die sich direkt mit den Krakauer Handschriften beschäftigen, wie z.B. Ursula Isselsteins Aufsatz über die bisher unbekannten Tagebücher Rahels oder Renata Buzzo Magaris Beitrag, der ihre Mitschriften der Vorlesungen Schlegels inklusive der launigen Bemerkungen einiger ebenfalls teilnehmenden Freunde vorstellt, widmen sich eine ganze Reihe von Aufsätzen den „kulturellen Kontexten“ und der „Rezeptionsgeschichte“. Konrad Feilchenfeldt berichtet beispielsweise über „Berliner Salons in der Romantik“ und geht unter dem Titel „Rahel-Philologie im Zeichen antisemitischer Gefahr“ den literaturwissenschaftlichen Versuchen Margarete Susmanns, Hannah Arendts und Käte Hamburgers nach.

Ebenfalls um das Rahel-Buch Arendts dreht sich der Beitrag von Ingeborg Nordmann. Sie stellt diese Biographie als Versuch vor, die Methoden des Genres zu unterlaufen. Als Ausdruck der autoritären Haltung „moderner Indiskretion, die versucht, dem anderen auf die Schliche zu kommen und mehr zu wissen wünscht oder zu durchschauen meint, als er von sich selbst wußte oder preiszugeben gewillt war“, lehnt Arendt den an Psychologie und Psychoanalyse orientierten biographischen Blick ab. Damit plädiert sie jedoch keineswegs für die Möglichkeit der objektiven Rekonstruktion historischer Wahrheiten, sondern für eine Aufmerksamkeit, die, keinem dem Text vorgeordneten Wissen verpflichtet, je neu ansetzt. In ihrem Vermögen, so „als Erzählerin abwesend und zugleich anwesend zu sein“, setzt sich die Fähigkeit Rahels fort, „in jene Äußerlichkeit hinauszutreten, wo die Aufmerksamkeit für den anderen nicht von der Selbstbestätigung des Ichs eingeholt werden kann“ (Nordmann). „Fremdsein ist gut“, hatte Rahel aus Paris als Fremde in der Fremde lebend geschrieben, denn als gleichsam „existenzielles“ Korrelat dieser Aufmerksamkeit eröffnet „Fremdsein“ eine Freiheit der Wahrnehmung jenseits der diktatorischen Ordnung von Identität und Geschichte“ (Nordmann).

Die theoretische Brisanz der Briefe Rahels arbeitet Marianne Schuller heraus, indem sie sie als „dialogisches Schreiben“ in das Feld strukturaler Texttheorien (Derrida, Kristeva) einführt. Gegenüber der immer noch tonangebenden Brief-„Theorie“, die den Brief als Simulation bzw. Ersatz eines (mündlichen) Gesprächs versteht und ihm deshalb „Dialogizität“ zuerkennt, läßt sich damit die „dialogische“ Struktur des Briefes denken als Effekt eines gegenüber dem gesprochenen Wort eigenständigen Kommunikationsmodus: der Schrift. Daß damit eine sehr prinzipielle Revision dessen angedeutet ist, was unter „Literatur“ oder genauer unter „Lesen“ und „Schreiben“ verstanden werden kann, ist abzusehen.

„Ich kann nur Briefe schreiben und manchmal einen Aphorismus, aber nichts, was Sie zum Drucke gebrauchen können“, schreibt Rahel an einen Herausgeber, nicht ohne ihm eine Reihe ihrer Texte zum Druck mitzuschicken. Sie wußte, daß ihre Texte „nicht zum Drucke zu gebrauchen“, also schwer tradierbar sind. Trotzdem oder vielmehr besser gerade deshalb trug sie selbst Sorge dafür, daß sie aufbewahrt und weitergegeben wurden. „Vielleicht“, so noch einmal Barbara Hahn, „ist heute der Zeitpunkt gekommen, an dem sie lesbar werden, weil wir uns nicht mehr so sicher sind, was ein Brief ist, da wir ihn allenthalben entschwinden sehen.“

Rahel Varnhagen/Pauline Wiesel. Ein jeder machte seine Frau aus mir wie er sie liebte und verlangte. Ein Briefwechsel. Herausgegeben von Marlis Gerhardt. Luchterhand, Darmstadt, Neuwied 1987.

Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin. Herausgegeben von Barbara Hahn und Ursula Isselstein. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987.

Briefe an eine Freundin. Rahel Varnhagen an Rebecca Friedländer. Herausgegeben von Deborah Hertz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1988.

Heidi Thomann-Tewarson: Rahel Varnhagen. rororo Bildmonographie 406, Rowohlt, Reinbeck bei Hamburg 1988.

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