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DIE WELT ALS VORSTELLUNG UND PERFORMANCE

■ Peteris Bankovskis räsoniert in einer Rigaer Kunstzeitschrift über die lettischen Künste

Manchem wirds als Riß des Tempelvorhangs erscheinen; denn wie aus dem Nichts ist eine völlig neue Richtung aufgetaucht, für die weder unsere Kritik noch erst recht das Publikum eine passende „ökologische Nische“ zu finden weiß. Installation, performance, environment, ready made bedrohliche Begriffe in Rede und Schrift zuhauf, die durch ausländische, aber auch sowjetische Kunstzeitschriften und durch Künstlergespräche geistern.

Es wäre ja alles wie gehabt, risse das ungewohnte Tun als Marotte eine maximalistisch auftrumpfende Jugend nur vorübergehend hin. Na und! Lockeren Federschwungs schriebe man die flächigen, voluminösen und theatralen Erscheinungen einer unkritischen Aneignung westeuropäischer Einflüsse zu.

Doch liegen die Dinge anders, und von einer Explosion kann keine Rede sein. Der Blick zurück mag einige Klärung schaffen. Ein wenig abseits lettischer Kunstgefilde der siebziger Jahre gab es schon das Aktionstheater des Andris Grindbergs („Der Hippiekönig„ BZ).

Zugleich stießen aktive Neuerer vor, wie Miervaldis Polis, der heute das EGOzentrum verwirklicht. Die Ausstellung „Umwelt, Natur, Mensch“ in der Peterskirche 1984 hatte ein breites Publikum (Amtspersonen inklusive) mit Lichtkinetik, Megaplastik und Installation konfrontiert, und zwar in Werken durchaus anerkannter, traditionell akademischer Künstler. Wenn wir uns jetzt an die Restauration künstlerischen Ausdrucks in der Stille der siebziger Jahre und davor machen, sehen wir vor uns das Szenario einer Entwicklung, deren dynamische Konsequenz das ohnehin komplizierte Verhältnis vieler Künstler zur Realität nachhaltig verändert hat.

Es gab Aktionen in der Bahnhofsunterführung während der Tage der Kunst 1986 und 1987; drei Ausstellungen zum Thema „Zufall“. Und das aus der „Werkstatt zur Restauration nie verspürter Empfindungen“ des Hardijs Ledins und seiner Künstlerkollegen kamen die „Erste Ausstellung ungefährer Kunst“, „The Wind in the Willows“, und „Der Maulwurf im Bau„; und Kristaps Gelzins installierte jüngst „Die Arche“.

Zunächst zu den aktuellen künstlerischen Hervorbringungen der „seltsamen Art“: den Werken von Breze, Putr_ams, P_etersons, Gelzis und Tillbergs. Auf den Teppichboden starrt rostendes Metall, Brocken Gesteins und Scherben von Glas. Unweit davon herrscht verhaltene Balance und Friedlichkeit rein klassischer Komposition, es ist die Ausstellung der Malerei von Dace Liepina.

Andernorts sehen wir großformatige Grafiken, wo die naive Mühe, um alles originell sein zu wollen, mit fürwahr unverschämt offener Originalität koexistiert. Und schließlich, ordnen Inese und Ivars Mail_itis ihr voluminöses und existentiell zwar verfremdetes, doch innerhalb Grenzen „korrekten Geschmacks“ gehaltenes Skulpturenreich. - Das reicht, um festzustellen, daß wir in Riga über wenige stilistische Kreuzungen in extrem unterschiedliche Kunstwelten eindingen können, obwohl sämtliche Aussteller das Diplom ein und derselben staatlichen Kunstakademie in der Tasche tragen.

Wieso kommt es zu solch pluralistischer Interpretation der Form angesichts einer Kultur, die sich Jahrzehnte entlang der offiziellen Werteskala allumfassender Einheitlichkeit entwickelt?

Zugegeben: In der Sowjetunion und im Westen wird diese Frage anhaltend erörtert, wobei der Gedanke einer möglichen, neuen Ära der Kultur sich immer deutlicher herauskristallisiert. Indem Vittorio Magnano Lampugnani Parallelen zwischen Postulaten Friedrich Nietzsches, Gottfried Benns und des heutigen Kulturtheoretikers Jean Francois Lyotard zieht (in: Domus, 1986, Nr. 677), legt er die konzeptionelle Abfolge frei, die zum gegenwärtigen Befragen zahlreicher gleichzeitiger Realitäten führt. Der Autor behandelt weitgehend das mangelnde Vertrauen des Menschen heute in sogenannte Meta-Lehren (eine Umschreibung jeglicher Dogmata). Aus dem Unglauben entstehe eine Art Ära der Ambivalenz, und in der neueren Diskussion gewinne der Zeitbegriff an Bedeutung.

Der Kulturphilosoph Paul Virilio hat bemerkt (in: Flash Art, 1988, Nr. 138): „Wir leben nicht mal mehr in Sekunden, sondern in einer Welt unendlich kleiner Zeiteinheiten. Der Übergang von der extensiven zur intensiven Zeit wird mit Sicherheit all unsere gesellschaftliche Norm und Aspekte gründlich beeinflussen, und unser gesellschaftliches Leben samt unserem Weltbild wird sich radikal ändern. (...) Es ist eine Zeit, in der die reale Welt und unser Bild von ihr nicht mehr übereinstimmen.“

Gedanken dieser Art fließen zunehmend in Betrachtungen künstlerischer Intelligenz der entwickelten Welt ein, und auch wir sollten die Gegenwart des persönlichkeitskonzentrierten, dynamischen Raum/Zeit -Verhältnisses samt aller Widersprüche zur Kenntnis nehmen. Denkbar, daß sich daraus Veränderungen des künstlerischen Gesamteindrucks erklären lassen, sowie die immer häufiger wahrzunehmende Wendung bisheriger „Traditionalisten“ zu aktiven Formen der Ansprache.

Beim Schreiben über konkreten künstlerischen Ausdruck könnte die Einlassung auf obengenannte Autoren an unpassender Stelle geschehen sein, gäbe es nicht das „Manifest“ von D. Lapine, mit dem sie sich gegen die sogenannte Avantgarde wendet: „Menschen, die tagtäglich eine ungepflegte und verrottete Umwelt erleben müssen, werden Aktionskunst niemals als Kunst, sondern nur als eine weitere Unordnung betrachten. Wie es scheint, haben dies unsere Avantgardisten, die sich erklärtermaßen gegen Normen, Farblosigkeit und Spießertum wenden, nicht erkannt.“

Zunächst wäre zu antworten, daß die gesamte Geschichte der Kunst zum Katalog der Paradigma, Exempel und Ritualformen erklärt werden kann; und zu dieser banalen Wahrheit fügt sich der Gedanke des Theoretikers J.K. Argan: „Künstler sind offenbar nicht mehr in der Lage, Einfluß auf die Qualität der Umwelt zu nehmen; dennoch sind sie fähig zur Einflußnahme auf den psychologischen Bezug des Menschen zur Umwelt. Natürlich kann hier nicht von der Suche nach dem Guten im Schlechten die Rede sein und nicht davon, der Künstler möge den Menschen zur Freude über das System ermutigen, das ihn zum Ausharren zwingt. Die Kunst hat die Aufgabe, dem Menschen das Schlechte seiner entfremdeten Umwelt verständlich zu machen, damit er das Reagieren erlernt, um den Kampf gegen die übermächtige Aufdringlichkeit der Ausbeutung und Entfremdung führen zu können.“

Der Kampf gegen ..., ist das nicht eine der fundamentalen Voraussetzungen zur Kunst? Wie zu kämpfen ist eine andere Frage.

Eine Möglichkeit ist das harmonisierende, kompensierende Vorgehen. Es gehörte stets zu den Waffen der Kunst als Ausdruck der ästhetischen Kategorien des Schönen und Guten im Mechanismus menschlichen Handelns. Kunst als Spiegel der Realität? Eher doch Spiegel der Mühen ums Ideal? Dieser Weg ist der bildenden Kunst Lettlands bis heute charakteristisch.

Erinnern wir uns auch jenes anderen, stets gegenwärtigen Standpunktes. Giaccomo Casanova wird folgende Bemerkung zugeschrieben: „Obwohl Mengs bezüglich Farbe und Zeichnung ein großer Künstler war, fehlte es ihm an Wesentlichem, das einen großen Maler auszeichnet: am originellen Gedanken nämlich.“ Welche Bedeutung hat der originelle Gedanke heute, da die Welt mit Dingen übersättigt ist und der Mensch am Überfluß der Information zu ersticken droht, und da die Welt, durch die Macht der Massenmedien zur Murmel geschrumpft, als leicht zerstörbares Ding durch gewaltige Universum trudelt?

Und doch drängt die Kunst überall zum Durchbruch und stellt sich fortwährend zur Wahl. Als symbolisches Abbild dieser Prozesse verstehen sich die großformatigen Siebdrucke von Oj_ars P_etersons. Die „Endlose Auswahl“ zeigt P_etersons zufolge die ewige Auseinandersetzung um den Konflikt zwischen Individuum und Umwelt, dem Spiel mit der stets gegebenen Möglichkeit zu Selbstmord, zum Sprung ins Ungewisse, zum konjunkturellen Drang nach wohlwollendem Regime. Den Zyklus der sich von Ausstellung zu Ausstellung weiterentwickelnden Arbeit des Oj_ars P_etersons kann man als automatisches (Fort-)Schreiben der gegebenen kulturellen Lage verstehen, wobei der Künstler selbst die Rolle des selbstschreibenden Mechanismus - des Medium? - erfüllt. Der Kampf und die Wahl also sind jene Kategorien, woran ebenfalls die schwarzen „Humanoide“ des Ivars Mail_itis erinnern. Diese vom Augenblick ihres Entstehens an Gefesselten, Als-Ob-Gefangenen, stolpern und fangen sich wieder und reißen sich aus den Fesseln der Selbstgenügsamkeit, als wollten sie zeigen, daß dies schon immer der Weg des Menschen gewesen sei, an dessen Ende er zum Bannerträger, zum Fetzen Tuchs oder zum sinnlosen Opfer wird.

Seit dem Dadaismus kennt die moderne Kunst eine Vielzahl antitotalitärer Module, wobei heute die kruden, naturalistischen Aspekte des Expressionismus und die ironische Verfremdung der pop art am einflußreichsten geblieben sind. Zur letzteren Richtung zählt Kirils Smelkovs, dessen großformatige Panno auf die Vorstellung von auflagestarken Massenprodukten der Popkultur verweisen. Doch Smelkovs figuriert seine Formen als Absage an die Formeln der Massenkultur (girls, superman, Luxuswaren), an deren Stelle seine eigene „Nomenklatur der Produkte“ tritt, wobei er frei mit Assoziationen zur Kunstgeschichte operiert und dabei Installationen aus Warenmustern seiner eigenen Erfindung entstehen.

Oleg Tillberghs stellt mit seiner Installation ein intaktes Sediment an Weltempfinden in den Raum. Hier schichten sich rostende Stahlplatten, woraus eine Radachse auf Schienen hervorstrebt; dort erheben sich Stützen aus Stahl zu grob verschweißten Monumenten, daneben der gewichtige Granitsteinbruch, der sich auf dem Parkett, den Platten und einer Karre türmt. Akzentuiert eine Arbeitsecke, ein wahres Durcheinander des schlicht Ungepflegten samt Elektromotor und abgegriffenem Werkzeug. Aus dieser Ecke ragt das Gebilde einer Schleifmaschine hervor als Verweis auf eine möglicherweise kinetische Konstruktion, die im Entstehen begriffen ist. Unwillkürlich muß man sofort an Situationen aus der täglichen Produktion der Industrie denken, samt deren traurigem gar nicht tragischem Durcheinander und dessen zutiefst antihumanem Wesen; aber auch an konzeptuelle Parallelen zur Arbeit des Leaders der Installationskunst ist zu denken, an Joseph Beuys. Heiner Bastian, betont (in: Joseph Beuys im Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg, 1987), daß im Zentrum von Beuys fundamentalen Themen die Reflexion des Todes steht sowie sein Befassen, Werten und Analysieren des Widerspruchs zwischen Natur und Menschenwerk. Hier liegt der unbehauene Stein, um die Kategorie des Ewigen anzusprechen.

Andris Breze hat die Gruppe „Die Bewirtschafter der Erde“ gestaltet, deren große, robuste Gestalten mit Lumineszenz reflektierenden Hammer und Gabel hantieren. Das rituelle Erstarren dieser expressiven Gestalten im Gewirr von Kabeln (zur Versorgung der Leuchtkörper) ruft die Reflexion der (Un -)Möglichkeit traditioneller Werte in unserer von technischen Illusionen besessenen Zeit hervor, ihrer Grundsätze; oder Fragen zur technokratischen Utopie und zur traditionellen Auffassung elementarer Bedürfnisse. Das Werk von Adris Breze sowie die gesamte Ausstellung muß als Gegengewicht zu jenen stets virulenten, neuerdings durch den Neoklassizismus belebten Tendenzen betrachtet werden, die mit Hilfe einer entfremdeten, Kälte erzeugenden Pseudomythologie von Negation und Enttäuschung künden. Ein den Mythen gerechter Umgang unserer heutigen Gesellschaft liegt dem Pathos dieser Ausstellung zugrunde.

Die zyklische Installation von Juris Putr_ams in dieser Ausstellung ist überaus eklektizistisch, zugleich spricht sie den Betrachter emotional sehr unmittelbar an. Die grob in Holz gehauene Menschengestalt, ein zum Teil angesengter Ketzer, liegt auf einer von scharfkantigen Splittern übersäten Bahre (also auf dem Weg zur Wiedergeburt?). Ein weiterer Kreis des Leidens, der Erniedrigung? Möglich, denn die nächste Station des Zyklus, das in Blech geschnittene „Portrait“ des beängstigend grotesken „Tribuns“, läßt kaum eine radikale Wendung zum besseren erwarten.

Es mag seltsam klingen, daß die Ausstellung im Ganzen einen beruhigenden Eindruck entstehen läßt, trotz jener grotesken Bilder des Schreckens, die schlimmes bezüglich unseres Lebensraumes und unserer Zeit befürchten lassen. Blanken Sarkasmus, Schreie der Hoffnungslosigkeit und zorniges Fauchen - doch hören wir hier im Hintergrund, quasi als Gegengewicht, eine Komposition der minimal music (von Gelzis). Und beim Hören der zyklisch pulsierenden Musik kommen wir zur Überzeugung, daß der feste (bei uns jedenfalls unkommerzielle) Zugriff der Künstler auf Prozesse unserer Realität die Hoffnung nährt, daß ihr Weg zur Kunst, der - oberflächlich betrachtet - als absonderlich, einigen gar schockierend erscheinen mag, vieles davon offenlegt, was wir ansonsten so sorgfältig zu verstecken bemüht sind - ohne uns darüber im Klaren zu sein, daß das ins Verborgene verdrängte uns selbst von innen her zerstört.

Übersetzung von Indulis Bilzens. Leicht gekürzte Fassung einer Ausstellungskritik aus Riga, die genannten Künstler sind auch hier in der Kunsthalle vertreten.

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