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Zwischen Holocaust und Shoah

■ Bericht über den Kongreß „Erinnern für die Zukunft“ in Oxford

Uta Ruge

Die unterschiedlichen Namen, die dem historischen Ereignis der europäischen Judenvernichtung gegeben werden, spiegeln inzwischen, so scheint mir, verschiedene Haltungen der Sprechenden oder Schreibenden: die eine, die man zunächst als erleichternden Gebrauch eines Terminus technicus Holocaust - bezeichnen kann, die andere als ein Festhalten demgegenüber an der bedeutungsvollen, enigmatischen Schwere des Geschehens.

Aber nicht nur in den zwei so benamten Filmen - und ihren kontrapolischen ästhetischen Welten - scheint der fundamentale Unterschied auf, sondern auch, soweit ich es verstanden habe, in der Bedeutung der Worte selbst. Hielt das eine, so wie es von Elie Wiesel in den fünfziger Jahren geprägt und gebraucht worden ist, an einem Kontinuum religiöser Sinnstiftung fest, so betont das hebräische Wort „Shoah“ das Element der Zerstörung und totalen Vernichtung.

Der Kongreß in Oxford bewegte sich zwischen dem einen und dem anderen - und zwar in mehr als nur einer Hinsicht.

Wollte man mit der Abschlußveranstaltung beginnen, dem Öffentlichkeitstag in London nach dem Kongreß, so wäre die Bilanz - wie ein Erinnern für die Zukunft denn aussehen könne - gewiß die negativste. Der Verleger Robert Maxwell, dessen Organisations- und Finanzkraft dieser Kongreß in erster Linie zu verdanken war, hatte den Vorsitz des Podiums in der Central-Hall von Westminster eingenommen und fungierte in dieser Rolle als übermächtiger Inszenator, der, an Akklamation des Publikums gewöhnt, sie herrisch einfordert, wenn sie ausbleibt.

Ein Eklat bahnte sich an bei der Verlesung von staatshäupterlichen Grußadressen, Reagan, Thatcher, Mitterrand - und Helmut Kohl, „dessen Worte mich besonders bewegt haben“. Als der Beifall nach der Kohladresse eben so dünn blieb wie bei allen anderen, forderte Maxwell die Anwesenden auf, sich zu erheben und mit kräftigem Applaus die Anstrengungen Kohls und der Bundesrepublik zur ehrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu würdigen. Zwar ging ein Raunen und Zögern durch den Saal, aber dennoch stand man auf, weder zur abverlangten Begeisterung noch zum Protest dagegen fähig.

Nun kann man über die Anstrengungen Kohls nicht nur sehr anderer Meinung sein - und Elie Wiesel schickte seiner Rede auch sofort eine entsprechende Bemerkung über Bitburg voraus -, sondern sollte in der Lage sein müssen, einem so skandalösen Instrumentalisierungsversuch für private politische? geschäftliche? - Versöhnungswünsche entgegenzutreten. Der Mythos Holocaust, wie es die so betitelte Miniserie nahelegte, wird einer zweifelhaften Privatheit ausgeliefert (auch Maxwells Familie ist von den Deutschen ermordet worden), und Trivialisierung zeigt sich schnell als die andere Seite seiner Münze. In einem, von Maxwells Sonntagszeitungen zwei Tage später von ihm unter der Überschrift „J'Accuse“ veröffentlichten, Kommentar verglich er das Schweigen der britischen Presse über „seinen“ Kongreß mit dem Schweigen über die Verbrechen vor mehr als 40 Jahren: ein großer Einebner am Werk.

Die Vorstellung der Kongreßarbeit durch einige Redner ließ an diesem Freitag jedoch noch ahnen, über welche Abgründe hinweg Wissenschaft hier betrieben werden muß und ihre Sprache zeigte Erkenntniswerkzeuge an: poetische Genauigkeit bei Elie Wiesel, streng-pastorale Moralität bei Franklin P. Littell, emphatische Wissenschaft bei Yehuda Bauer - und der emotionslose Kathedervortrag von Eberhard Jäckel das ewige Historiker-Ideal taktischer Akribie. Nichts davon kann allein stehen und alles sich nur annähern an Antworten, die man - über die Totenklage hinaus - geben muß: wie kann Unbegreifliches begreifbar gemacht werden, wie darüber geforscht, gelehrt und die Ergebnisse den politischen Entscheidungsstrukturen eingeschrieben werden, damit sich Völkermord nicht wiederholt.

Wie kan man „erinnern für die Zukunft“?

Auf den drei Tagen des Kongresses, dem ersten seiner Art in Großbritannien, ist von etwa 600 Teilnehmern aus 24 Ländern 700 Stunden lang diskutiert worden - in 50 Workshops je 14 Stunden. Dazu hörte man sich in neun Plenarstunden jeweils Einführungsvorträge an - und sollte vorher etwa 3.000 Seiten wissenschaftlicher Arbeitspapiere gelesen haben - allein mit deren Themenformulierungen könnte ich schon eine Zeitungsseite füllen.

Die größten Themenbrocken, so ergibt sich aus den zwei schwergewichtigen Arbeitsfolianten, waren Theologie christliche und jüdische -, Kirchengeschichte und die Ästhetik des Erinnerns, Literatur, Film, Architektur. Wesentlich geringeren Raum nahmen ein: sozialpsychologische Studien - mit Überlebenden und ihren Kindern, mit Tätern und mit den „Gerechten“, jenen also, die während der Nazizeit Juden retteten - ebenso wie Historiker-Diskussionen, die zu politischen Aussagen führen sollten, und ganz am Ende der Liste stand „Philosophie nach Auschwitz“.

In der Tat also schien die meisten Delegierten die Frage des Glaubens nach Auschwitz sehr viel mehr zu beschäftigen oder anders gesagt: hatten die Veranstalter dafür gesorgt, daß ihre Probleme - und besonders die der Christen - zum dominanten Thema der ersten beiden Tage wurde. Religion

Ihre Probleme, das sind nicht nur die einer Kirche, die als moralische Institution während der Verfolgung der Juden absolut versagt hat, sondern vor allem die einer Theologie, deren antisemitische Tradition den Boden für eine Verwirklichung dieser vernichtenden „Lehre der Verächtlichkeit“ bereitet hat.

Dies ist besonders von den amerikanischen Theologen Alice und Roy Eckardt schon früh anerkannt worden, und ihre Arbeiten sind es vor allem, die in radikaler Revision christliche Grundfesten erschüttert haben - oder wollen. Der christlich-jüdische Dialog, für sie nach Auschwitz ein Imperativ unabweisbarer Dringlichkeit, kann nur mit dem erklärten Ende jeder Missionsabsicht und einer Relativierung des Osterereignisses (Auferstehung, Triumph über den Unglauben des jüdischen Volkes, Ende des Alten Bundes, Beginn des Neuen) verwirklicht werden. Ohne diese Reform christlicher Lehre bleiben Gespräche mit jüdischen Gemeinden und Rabbinern Augenwischerei und Selbstbetrug. Auch Franklin P. Littell betonte in seinen mit mächtiger Predigerstimme gehaltenen Reden immer wieder zweierlei: daß das notwendige Schuldbekenntnis der Christen nicht nur ihr Versagen zwischen 1933 und 1945 zum Inhalt haben darf, sondern 2.000 Jahre Schuld an den Juden umfaßt, und daß die erste Pflicht eines Christen sei, zu schweigen und den „jüdischen Brüdern in Gott“ zuzuhören (siehe auch sein Buch: Die Kreuzigung der Juden, 1975).

Bei den großen Fragen - zur Gottesexistenz - kann man als nicht-religiöser Mensch schlecht mitdiskutieren. Erlauben kann man sich aber die kleinere Frage, ob denn und wie in Lehre und Ausbildung von Pastoren und Pfarrern, in kirchlichen Kindergärten, Schulen und Krankenhäusern eine Sensibilisierung für den Antijudaismus des Neuen Testaments und der Paulus-Briefe wirklich noch zur Toleranz-Erziehung beitragen kann - wenn sie dort nämlich auf die sozialen Muster und Nöte stößt, die man nicht einfach mit gutem Willen mehr abschaffen kann. Ein sehr erschreckendes Beispiel für die Resistenz, ja sogar aggressive Gegenreaktion gegen solche Erziehung ereignete sich kürzlich in Manchester: dort hatte ein ausgetüfteltes anti -rassistisches Curriculum in einer Schulklasse von Indern, Pakistanis, Schwarzen und Weißen zu extremer Feindseligkeit unter den Kindern und sogar einem Mord geführt... Dogmen also lassen sich eher abschwächen oder abschaffen als die Realität der Abgrenzungsnot, der sie offenbar entspringen. Am Rande

In der Bar des Wadham-College hatte ein französischer Journalist die Idee, die bierzapfenden Studenten nach ihrer Meinung über den Kongreß zu befragen. Ich spitzte die Ohren.

Nur zufällig habe man mitgekriegt, es gehe um den Holocaust. Ansonsten aber? Ansonsten - nun, das Übliche: was die Deutschen gemacht haben, war fürchterlich, aber seitdem haben es viele andere auch gemacht. Man solle sich doch lieber mit den Schweinereien beschäftigen, die gerade jetzt passieren. Wie verhielte sich Israel denn jetzt zum Beispiel.. undsoweiter. Aber ist die Organisation eines solchen Kongresses nicht doch eine sehr ungewöhnliche Sache? Ungewöhnlich? Wie meine er das? Nun, daß hier in Großbritannien ein Privatmann daherkommen müsse... Robert Maxwell ist doch kein Privatmann. Der ist Millionär, Milliardär, vermutlich Billionär... Er ist der König von Oxford - und es sei kein Wunder, daß Bürgermeisterin, Bischof und College-Präsidenten alles mitmachen, was er hier aufstellt. Ein weiterer Student mischt sich ein: Ob der Journalist denn vielleicht wüßte, was Maxwell dem britischen Fußball angetan habe...?

Auf der Straße werde ich einmal, an den zwei dicken Folianten mit Kongreßpapieren schleppend, von einem jungen Mann angesprochen: Was das für ein Kongreß ist, der da stattfindet? Ich bin einen Moment um ein Wort verlegen und halte ihm schließlich den Aufdruck der Kataloge zum Lesen hin. Ah, sagt er, geht es um den jüdischen Holocaust? Welchen könnte er sonst im Sinn gehabt haben, frage ich mich beim Weitergehen. Dann kaufe ich eine Zeitung und lese, daß Aids eine Art Holocaust sei. Weiter, in derselben Zeitung, lese ich einen Artikel über die Uraufführung eines amerikanischen Theaterstückes in London. Der Autor wird sehr gelobt und man zitiert aus dem Dialog: „Was die Feindseligkeiten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf Holocaust-Level steigert, ist der Holocaust selbst - oder vielmehr meine Unterstellung, der Holocaust könne womöglich mit irgendeinem anderen Ereignis in der Geschichte der Menschheit Ähnlichkeit haben... es gibt dieses Ereignis, das wir zum höchsten Maß für das absolute Böse gemacht haben... Aber dann flippen die Leute aus, sobald jemand versucht, diesen Maßstab irgendwo anzulegen...“

Der Autor Tony Kushner sagt, der Holocaust sei „fetischisiert und mythologisiert“ und damit zu einem „heiligen Geschehen“ gemacht worden. Wissenschaft

Der israelische Historiker Yehuda Bauer schreibt: „Der Holocaust ist erklärbar“ - und sein Anliegen ist, indem er Erklärungsmomente auflistet und Definitionen findet, das historische Geschehen tatsächlich einer Vergleichbarkeit zugänglich zu mahen, es zu entmystifizieren - und zwar ohne den sonst immer spürbaren Anteil an Abwehr und Polemik, der meist damit einhergeht.

Die Teilnehmer des Workshops, in dem u. a. sein Papier diskutiert wurde, beschäftigten sich mit historischen und soziologischen Forschungen zum Völkermord: an Armeniern und Zigeunern, mit dem Fall Kambodscha, verschiedenen südamerikanischen und afrikanischen Völkern und sogar Studien zum Massenmord der Hexenverfolgung des Mittelalters. (An dieser Stelle muß erwähnt werden, daß die türkische Regierung durch ihren Botschafter in London durch massiven Druck eine Diskussion des armenischen Völkermordes zu verhindern versucht hat!)

Die Fragen der Versammlung waren: Gibt es Vergleichbarkeiten und wie weit gehen sie? Soll Genozid auch aus der politischen Intention zu ihm oder nur aus dem Resultat definiert werden? Welche Anzeichen einer genozidalen Bedrohung kann man heute und für welche Völker ausmachen, auf die reagiert werden muß? Oder wird das Modell einer Wissenschaft als Warninstanz für die Gesellschaft nie funktionieren? Wäre dann also die Erforschung - und Etablierung! - sozialer und politischer Strukturen wichtiger, die eine Explosion von Vernichtungsenergien verhindern können? Und welche wären das, wenn es nicht auf die einfache Formel von Freiheit und Demokratie gebracht werden kann - wie My Lai etc. und die ausbleibende Reaktion der amerikanischen Gesellschaft darauf wohl leider zeigen? Andere Diskussionsrunden des Tages gingen der Frage nach, ob das Beispiel der Juden zwischen 1933 und '45 gezeigt habe, daß die Motivation zur Rettung der bedrohten „anderen“ (nicht nationaler Widerstand!) wesentlich persönlich und nicht politisch oder religiös waren und ob man vielleicht ein „Retterprofil“ aus sozialpsychologischen Studien heraus aufstellen kann?

Der auf den Plenarsitzungen des Kongresses immer wieder gemachte Appell gegen moralische Indifferenz im „eigenen Herzen“, in der „eigenen Wissenschaft“ oder in der „eigenen Gesellschaft“ schien mir oft auch schwerwiegende akademische Differenzen zu übertünchen - und läuft dabei auf kaum etwas anderes hinaus als das „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ - und zu Goethe fällt mir in diesem Zusammenhang leider nur noch Buchenwald ein - ein weiterer Zirkel also.

Ich denke, daß das Dilemma des Kongresses auch war, daß er fast ausschließlich von Theologen und empirischen Wissenschaftlern bestritten wurde, und daß seine Bilanzbeschreibung - aus pädagogischen Gründen - von vornherein auf einer optimistischen Note - Gehet hin und lehret! - enden sollte.

Die Abwesenheit philosophischer Arbeit auf dem Kongreß, und damit die Abwesenheit eines existentielleren Umgangs mit dem Nichts der „Shoah“, belehrte mich dennoch auch über einen ganz eminent wichtigen Aspekt von „Holocaust-Studien“: daß nämlich die Beschäftigung mit der Vernichtung der Juden für Juden - und sie sind fast ausschließlich die Lehrenden und Forschenden in diesem Fach - gleichzeitig die Rekonstruktion der Leben ist, die nicht mehr sind. Deren Gedächtnis aber scheint unerträglich, wenn es nicht als identitätsstiftendes Moment in eine - bessere - Zukunft gewendet werden kann.

Vielleicht ist der Wucht solcher absolut und konkret gewordenen Vernichtungsenergie auf kollektiver Ebene nicht anders zu begegnen. Die Traumatisierung eines Volkes durch die einmal zur Welt gebrachte Tatsache Auschwitz hört nicht etwa auf, nur weil Auschwitz nicht mehr ist. Und daß die Traumatisierung das Erbe der Juden ist, weil der Rest der Welt es vorgezogen hat, das Erbe zu verweigern, kann nicht genug betont werden.

Adorno - den ich zitieren will, weil die Abwesenheit seiner Philosophie auf diesem Kongreß eine wirkliche Merkwürdigkeit war und weil das nicht so stehen bleiben darf - hat in der „Negativen Dialektik“ folgendes als Zwang zur Philosophie benannt: „Die Schuld des Lebens, das als pures Faktum bereits anderem Leben den Atem raubt, einer Statistik gemäß, die eine überwältigende Zahl Ermorderter durch eine minimale Geretteter ergänzt, wie wenn das von der Wahrscheinlichkeitsrechnung vorgesehen wäre, ist mit dem Leben nicht mehr zu versöhnen. Jene Schuld reproduziert sich unablässig, weil sie dem Bewußtsein in keinem Augenblick ganz gewärtig sein kann. Das, nichts anderes, zwingt zur Philosophie.“

Das Denken und die Realisierung der Endlösung kommt aus genuin deutschen Traditionen. Wäre ihr Anteil da nicht mindestens eine Analyse der Leben, die immer noch sind - der Einsicht folgend nämlich, daß Kontinuität immer auf der Seite der Täter steht?

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