„Die Abenteurer“ im Karabach-Komitee

■ Nagorny-Karabach streikt trotz Drohungen aus Moskau weiter / Forderung bleibt nach wie vor der Anschluß an Armenien / Karabach-Komitee um Mäßigung bemüht / Komitee Zielscheibe von harten Angriffen in Sowjetmedien / TASS bezeichnet Mitglieder als „Kleinbürger“

Berlin (afp/ap/taz) - Während in der armenischen Hauptstadt Eriwan die Streikfront weiter abbröckelt, hält der Ausstand in Nagorny-Karabach weiter an. So wurden am Samstag in Eriwan nach Angaben der sowjetischen Tagesschau 'Wremja‘ in vielen Betrieben, die normalerweise am Wochenende geschlossen sind, Sonderschichten gefahren, um die während der Streiks entstandenen wirtschaftlichen Verluste abzumildern. Auch von staatlicher Seite kündigt sich eine Entspannung der Lage an. So berichtete die Nachrichtenagentur TASS, über 100 Wirtschafts- und Staatsfunktionäre, die im Zusammenhang mit den Streiks in Nagorny-Karabach ungerechtfertigt entlassen wurden, würden nun wieder eingestellt. Dagegen würde man jetzt hart gegen jene vorgehen, die weiterhin eine Fortsetzung der Streiks in der Region propagierten.

Trotz dieser Drohungen wird in Nagorny-Karabach weiterhin gestreikt. Die 'Wremja‘ zeigte leere Straßen in der Hauptstadt des autonomen Gebiets, Stepanakert, in der nur noch zwei Stadtverkehrsbusse in Betrieb sind. Dort wird trotz der Entscheidung des Obersten Sowjets vom letzten Montag, Nagorny-Karabach bei Aserbeidjan zu belassen, weiterhin der Anschluß an Armenien gefordert. An der Entschärfung der Lage in Eriwan ist das Karabach-Komitee wesentlich mitbeteiligt, das in den letzten Wochen die Streiks und Massenversammlungen koordiniert hatte und seit der Präsidiumssitzung um Mäßigung bemüht ist. Die letzten, nur noch teilweise befolgten Streiks am Donnerstag und Freitag waren in einer Massenversammlung gegen den Willen des Komitees durchgesetzt worden.

Das Komitee besteht aus elf prominenten Eriwaner Intellektuellen. Es besitzt Ableger bis in fast jeden Betrieb, jede Verwaltung, Schule und Universität. Dabei hat das Karabach-Komitee keine feste Struktur: „Wir sind keine Partei“, heißt es immer wieder. Aber in Eriwan weiß man, in welchem Büro des Schriftstellerverbandes die Komiteemitglieder angesprochen werden können, oder auf welcher Massenversammlung Petitionen an sie weitergereicht werden können.

In den Augen der amtlichen Nachrichtenagentur TASS sind die Komitee-Mitglieder „Kleinbürger und Abenteurer“, die Anarchie und Nationalitätenhaß schüren. Während die Regierungszeitung 'Iswestia‘ schrieb: „Sie werden das Volk nicht mitreißen!“, war es gerade dem Komitee gelungen, Massenveranstaltungen zu mobilisieren und Generalstreiks auszurufen. Dabei war die separatistisch orientierte Gruppe um Parwir Airikian, der im März verhaftet wurde und dem jetzt die Ausweisung aus der UdSSR bevorsteht, jedoch im Karabach-Komitee nie vertreten.

Die offenkundige Sympathie für die radikalen Wortführer hat auch tiefe historische Wurzeln. Wann immer Armenien von anderen Völkern angegriffen und besetzt wurde, erst durch die Perser, dann die Araber später durch die Türken, konnte sich der nationale Widerstand in die Enklave Nagorny -Karabach zurückziehen. In dieser Bergregion bildete sich in jenen Zeiten das Zentrum nationaler Identität, aus dem heraus Armenien immer wieder seine territoriale Souveränität herstellen konnte. Insofern hat Nagorny-Karabach einen extrem hohen Stellenwert in der armenischen Geschichte und große Bedeutung für das in diesem Jahrhundert zwischen der Türkei und der Sowjetunion aufgeteilte Volk. Die Anerkennung der Sowjetunion durch die Türkei war mit ein Grund für die Trennung Nagorny-Karabachs aus dem armenischen Staatsgebiet 1923. Bis zu Beginn der siebziger Jahre war diese Regelung jedoch kein schwerwiegendes Problem zwischen den beiden Sowjetrepubliken. Dann jedoch schürte Breschnews Statthalter in Baku, der erst im vergangenen Jahr entmachtete Alijew, den Konflikt mit der Bruderrepublik.

Mit einer gezielten Überfremdungspolitik versuchte er, Nagorny-Karabach der moslemischen Welt Aserbeidjans einzuverleiben. Mit dem Ende der Ära Breschnew brach der nationale Protest der Armenier aus: zunächst mit der Sammlung hunderttausender Unterschriften, deren Brisanz in Moskau keiner wahrnahm, dann mit Petitionen und Massenkundgebungen.

flo