: Föderalismus soll Belgien einen
Belgisches Parlament berät Verfassungsreform / Zentralstaat soll Bundestaat werden / Auch König Baudouin befürwortet Reform und enttäuscht damit Zentralisten und Separatisten / Die meisten Belgier begrüßen „das Jahrhundertwerk“ / Ende des Sprachenstreits ■ Von M.Stabenow / M.Kirfel
Brüssel/Berlin (taz) - „Es muß sein. Wir haben ja gesehen, daß das Land in den letzten Jahren wegen des Sprachenstreites immer unregierbarer wurde“, sagt eine Kioskbesitzerin an der Place Bremer in Brüssel. Wie sie meint der größte Teil der Belgier, daß die anstehende Verfassungsänderung sein muß. Aus dem bisherigen Zentralstaat Belgien soll bis Anfang 1989 ein Bundesstaat werden.
Drei Bundesländer sind geplant: Flamen und Walloni sollen sich in Zukunft selbst regieren dürfen. Hinzu kommt das zweisprachige Brüssel als eigenständige dritte Region. Die entsprechende Gesetzesnovelle zur Verfassungsreform wurde vor wenigen Tagen vorgelegt. In dieser Woche wird darüber im belgischen Parlament beraten.
Nach der Reform sollen in Zukunft die einzelnen Bundesstaaten selbst für Sozialpolitk, Erziehungs- und Gesundheitswesen, Medien-, Umwelt- und Energiepolitik sowie für Denkmalschutz zuständig sein. Die Brüsseler Zentralregierung wird weiterhin für Außen-, Verteidigungs-, Finanz- und Rechtspolitik verantwortlich sein.
Die Übertragung der Befugnisse auf die neuen Bundesstaaten bedeutet eine Umschichtung von 4O Prozent des Staatshaushaltes. Die anstehende Reform kann „als die wichtigste seit dem Bestehen Belgiens angesehen“ werden, meint Ministerpräsident Wilfried Martens. Manch einem monarchistischen Patrioten blutete jedoch das Herz, als am letzten Donnerstag auch König Baudouin, der nur selten zu aktuellen politischen Fragen Stellung nimmt, in seiner Rede zum belgischen Nationalfeiertag die bevorstehende Reform akzeptierte.
Der Monarch, eine der wenigen von Flamen und Wallonen gleichermaßen geachtete Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, betonte, die meisten Belgier wünschten sich zwar „weitreichende Entfaltungsmöglichkeiten für Sprachgruppen und Regionen“, wollten „jedoch auch vereint leben“.
„Ich bin schockiert“, sagt der Rentner Renaud Moniquet aus dem Brüsseler Stadtteil Schaerbeek. „Er hat wie ein Föderalist gesprochen.“ Moniquet ist Mitglied der Zentralisten-Vereinigung „Pro Belgica“. Mit der separatistischen flämischen Volksunie gehört die Vereinigung zu den wenigen Gegnern der Föderalisierung. Die Volksunie ist mit knapp zehn Prozent im Parlament vetreten. Parteichef Hugo Schiltz hatte sich unlängst öffentlich von Belgien losgesagt und erst nach scharfer Kritik von Ministerpräsident Martens seine Äußerungen zurückgenommen.
Das „Jahrhundertwerk“, wie ein belgischer Rundfunksender die Reform nannte, wird bereits seit langem in Belgien diskutiert, und schon 1980 wurden erste Schritte zu seiner Durchführung in die Wege geleitet: In Flandern und Wallonien wurden Regionalregierungen installiert. Der belgische Staat wurde 183O gegründet, als Europa nach den napoleonischen Kriegen neu aufgeteilt wurde. Viele Krisen haben seither das flämisch-, französisch- und deutschsprachige Zehnmillionenvolk geschüttelt. Das Hauptproblem des kleinen Landes zwischen der Nordsee und den Ardennen ist der Sprachenstreit.
Die Regierung in Brüssel - die 35.seit Kriegsende - hofft mit der Föderalisierung den Minderheitenkonflikt, der die belgische Regierung schon so oft lahmgelegt oder zu Fall gebracht hat, zu entschärfen. Noch vor wenigen Monaten hatte der halsstarrige Bürgermeister der kleinen Gemeinde Voeren, Jose Happart, den Sturz der Regierung verursacht. Er hatte sich geweigert, auf den Amtssitzungen in seinem von Wallonen bewohnten Dorf, Niederländisch zu sprechen. Das Dorf gehört zu flämischem Sprachgebiet, und Jose Happart verstieß mit seiner Weigerung gegen das Sprachenstatut, das Politikern die jeweilige Amtssprache der Region vorschreibt. Am Starrsinn dieses Dorfbürgermeisters war die vermittlungswillige Regierung Martens VII gescheitert.
Nach Neuwahlen im Dezember war Belgien 147 Tage ohne Regierung - die längste Periode seit dem Zweiten Weltkrieg. Nach den zähen Koalitionsverhandlungen trat schließlich die Fünferkoalition unter Martens VIII an. Mit ihrer Stimme könnte die lang angestrebte Verfassungsreform jetzt die notwendige Zweidrittelmehrheit erlangen.
Sollte es gelingen, die Föderalisierung durchzusetzen, wird in der Tat in Belgien eine neue Ära beginnen. Wenn in Zukunft bei regionalen Sprachenkonflikten nicht sofort die Zentralregierung in Brüssel eingeschaltet wird, bestehen Chancen, daß nach Jahren permanenter Regierungswechsel eine Periode größerer „Stabilität“ eintreten wird: Belgien wäre dann in der Lage, anstehende andere Probleme Wirtschaftskrise und Vorbereitung auf den EG-Binnenmarkt in Angriff zu nehmen.
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