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Pragmatismus - der neue amerikanische Traum

Michael Dukakis: Visionen sind ihm nicht geheuer / „Entschlossen, pragmatisch und Schritt für Schritt“ ist die Devise des demokratischen Präsidentschaftskandidaten / Als Gouverneur hat er Massachusetts zum Musterländle gemacht / Aber den großen Entwurf für die neunziger Jahre hat er nicht  ■  Aus Washington Stefan Schaaf

„Aus Michael Dukakis wird etwas ganz Großes. Das habe ich schon vor 19 Jahren gewußt, als ich ihm bei seiner ersten Kampagne geholfen habe.“ Für die Delegierte Ruth Walsh gingen beim Parteitag der Demokratischen Partei vor zwei Wochen in Atlanta alle Erwartungen in Erfüllung, die sie seit fast zwei Jahrzehnten in Michael Dukakis gesetzt hatte. Eine gewaltige Kameraplattform versperrt ihr die Sicht auf das Rednerpodium, von wo aus Mike Dukakis die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten akzeptieren soll. Aber das stört die etwa 50jährige Parteiaktivistin aus Massachusetts nicht. Sie kennt Dukakis lange genug, war schon oft bei ihm zu Hause und denkt nur das Beste von ihm. Er sei ein grundehrlicher, ungeheuer kluger und bescheidener Mann. „Zu den letzten beiden Parteitagen, als er nur Delegierter war, flog er mit uns in der Economy-Klasse und wohnte mit uns im Holiday Inn, während die anderen Gouverneure sich als VIPs hofieren ließen.“ Sie ist sich sicher: Mike Dukakis wird ein hervorragender Präsident.

Andere Delegierte in Atlanta sind von den Wahlchancen des Kandidaten Dukakis nicht so überzeugt. Kenneth Springer etwa, Delegierter aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Nashville/Tennessee, vermißt nicht nur bei Dukakis, sondern auch bei dessen Gegner George Bush etwas Glanz. „Im Moment traue ich beiden eher das Zeug zu, eine Wahl zu verlieren als eine zu gewinnen. Wenn jemand ins Weiße Haus will, so bringt er besser eine Portion Charisma mit.“ Er sei ein Macher und kein Redner, sagt Dukakis von sich selbst, wenn er auf sein Image als glanzloser Technokrat angesprochen wird. Aber er kann über dieses - während seiner Kampagne sorgsam gepflegte - Image doch hinauszuwachsen: seine feurige Rede in Atlanta beweist es.

Dennoch, der Macher Dukakis ist der wirkliche Dukakis; große Ideen, Visionen gar, sind ihm nicht geheuer und gefährden in seinen Augen das Streben nach sauberer Rationalität beim Erledigen der Staatsgeschäfte. Seine eigene Karriere ist das Musterbeispiel: „entschlossen, pragmatisch und Schritt für Schritt“ löst er politische Probleme. Nach diesem Motto hat er sich aus dem Stadtrat seines Heimatorts in Massachusetts in den Gouverneurssitz in Boston emporgearbeitet. Nach dem gleichen Grundsatz hat er seine sechs Konkurrenten im demokratischen Vorwahlkampf „ausgeknockt“, und auf diese Weise will er auch die Vereinigten Staaten ab nächstem Januar aus der Reagan-Ära hinausführen.

Was für einige seiner politischen Weggefährten „Entschlossenheit“ ist, nennen andere, selbst sein ehemaliger Assistent David Liederman, Dickköpfigkeit. Schon als Kind war Dukakis für seinen starren Willen berüchtigt, in der Schule wurde er wegen seines Strebertums und seiner hervorragenden Noten gehaßt. Er war noch keine zwanzig Jahre alt, als für ihn das Berufsziel Gouverneur feststand. Gouverneur, nicht etwa Senator, denn als Gouverneur könne man handeln, als Senator nur reden.

Der Parteireformer

Massachusetts im Jahre 1960, als die politische Karriere des Mike Dukakis begann, war nicht nur der Heimatstaat des charismatischen und 1964 siegreichen Präsidentschaftskandidaten John F. Kennedy, sondern vor allem ein Staat mit einer verkalkten politischen Struktur. Die Demokratische Partei wurde von einem korrupten Patronagesystem irisch- und italienischstämmiger Familienclans beherrscht. Dukakis, jung, ehrgeizig und dickköpfig, zog aus, die Partei von unten zu reformieren. Zuerst kippte er die alte Garde im Rathaus seiner Heimatstadt Brookline, einem mittelständischen Vorort Bostons. 1962 kandidierte er mit Erfolg für das Staatsparlament von Massachusetts, dem er bis 1970 angehörte. Getragen von den jungen Berufstätigen in den Suburbias krempelten die Reformer um Dukakis die Partei um.

Reformer waren sie, keine Rebellen wie sonst so viele in den sechziger Jahren. Zwar war es die Kommunistenhatz Senator Joe McCarthys in den fünfziger Jahren, die dem Collegestudenten Dukakis den Stoß zum politischen Engagement gegeben hatte. Doch vom Streit um den Vietnam-Krieg und vom Kampf um gleiche Bürgerrechte für die Schwarzen hielt Mike Dukakis sich fern. Als Martin Luther King Jr. 1965 in Boston demonstrierte, zog der Abgeordnete Dukakis nicht mit ihm durch die Stadt. Als der Friedenskandidat Eugene McCarthy in der Präsidentschaftskampagne von 1968 die demokratischen grassroots gegen den Vietnam-Krieg mobilisierte, stand Dukakis am Rande. Im Präsidentschaftswahlkampf 1972 unterstützte er nicht den progressiven George McGovern, sondern den farblosen Ed Muskie. Im Frühjahr 1970 entsetzte sich die Nation über die von Nixon angeordnete amerikanische Invasion Kamputscheas. Auch der Mord an vier gegen den Krieg protestierende Studenten durch die Nationalgarde sorgte für Aufregung. Indessen stritt Mike Dukakis, immer der kühle und effektive Organisator, in Boston gegen neue Autobahnen und für eine Reform der Kraftfahrzeugversicherung.

Trotz des grenzenlosen Pragmatismus wurde er Ende der sechziger Jahre von seinen Kollgen zum „effektivsten Abgeordneten im Parlament“ gekürt. Immerhin war es ihm gelungen, die Demokratische Partei aus der Ära der Korruption und der Skandale herauszuführen. Bei den Wahlen Ende 1970 bewarb er sich um das Amt des stellvertretenden Gouverneurs, doch er unterlag. Im öffentlichen Rampenlicht blieb er trotzdem, denn im Herbst 1972 begann er, regelmäßig eine Fernsehshow namens „The Advocates“ zu moderieren, die der bundesdeutschen Erfolgsserie „pro und contra“ entsprach. „Mitte 1973 war Dukakis in ganz Massachusetts als TV-Star bekanntgeworden. Er hatte sich mit den klügsten Köpfen der Nation gemessen und all das, ohne jemals eine eigene Position beziehen zu müssen“, schreiben seine Biographen Richard Gaines und Michael Segal.

Der Gouverneur

1974, ein halbes Jahr nach Nixons Sturz über Watergate, wurde Dukakis, der eine „saubere Regierung“ versprach, zum Gouverneur von Massachusetts gewählt. Sein erstes Jahr im Amt war ein Desaster. Nachdem er im Wahlkampf versprochen hatte, keine Steuern zu erhöhen, sah er sich nach der Wahl mit einem gewaltigen, vom Vorgänger vertuschten Budgetdefizit konfrontiert. Er zögerte über Monate eine Entscheidung hinaus, kürzte den Sozialhaushalt des Staates rigoros um 300 Millionen Dollar zusammen und mußte letztlich doch noch höhere Steuern erheben. Jeden Tag zogen Demonstranten vor seinem Haus in Brookline auf und ab. „Es war vor allem die kühle, abgehobene, buchhaltermäßige Art und Weise, in der er die Haushaltskürzungen durchsetzte, die seine Stammwählerschaft gegen ihn aufbrachte“, schreibt die Journalistin Gail Sheehy in einem Portrait des Gouverneurs. Dukakis sei „zu sehr Prinzipien verhaftet gewesen, um ein guter Politiker sein zu können“. Er habe die auf ihn zukommende Katastrophe weder sehen können noch wollen. Dukakis wurde 1978 von seiner Partei nicht wieder aufgestellt. Er hatte die Liberalen enttäuscht und die Geschäftswelt mit seinem Starrsinn verärgert. Sein „öffentlicher Tod“, wie Gattin Kitty Dukakis seine Vorwahl -Niederlage nannte, weitete sich zu einem vierjährigen politischen Exil im Dozentenstab der Harvard University aus.

Der neue Dukakis

Konsensbewußter und weniger arrogant zahlte es der „neue Dukakis“ 1982 seinem Nachfolger heim und zog ins Gouverneurshaus zurück. „Er ist ein anderer Mensch heute“, sagt Philip Johnston, ein Mitglied des Dukakis-Kabinetts in Boston, der in der ersten Amtszeit noch Demonstrationen gegen den Gouverneur organisiert hatte. Einen „japanischen Managementstil“ beobachtet der Harvard-Ökonom Robert Reich an Dukakis: „Wenn er ein Problem sieht, sucht er die besten Leute zusammen und ermutigt sie, eine neue Lösung zu finden. Er glaubt fest an die Bereitschaft und die Fähigkeit von rational denkenden Menschen, ihre eigenen Interessen für das Gemeinwohl beseite zu stellen.“ Was der neue Dukakis vom Image des alten übernommen hat, ist das absolute Beharren auf Ehrlichkeit und Unbestechlichkeit im Amt. Dukakis präsentiert sich im Wahlkampf als politischer Meister Proper, als das genaue Gegenstück der skandalbeschmutzten Reagan-Administration.

Der wiederauferstandene Gouverneur Dukakis hat Massachusetts seit 1982 zum Schaukasten für Modelle politischer Kooperation gemacht. Nach der gelungenen Transformation des Staates zum High-Tech-Zentrum der amerikanischen Ostküste hat ein Wirtschaftsboom Raum für soziale Initiativen geschaffen. Beispiel Jobtraining für Wohlfahrtsempfänger - meist sind es Wohlfahrtsempfängerinnen: 30.000 von ihnen sind in den letzten fünf Jahren mit Regierungsgeldern für Jobs in der Privatwirtschaft ausgebildet worden. Der Staat kam nicht nur für die Ausbildungskosten und eine Krankenversicherung auf, sondern auch für entstehende Kindergarten-Kosten. Die geschätzte Einsparung im Wohlfahrtsbudget beläuft sich auf 100 Millionen Dollar pro Jahr. Einen Meilenstein im Sozialbereich stellt auch die Einführung einer staatlich garantierten Krankenversicherung für alle Bürger dar, die im Mai vom Parlament in Massachusetts beschlossen wurde. Ein weiterer Erfolg war das Programm gegen Steuersünder, das der Staatskasse von Massachusetts seit der Wiederwahl von Dukakis knapp zwei Milliarden Dollar zusätzliche Einnahmen verschaffte.

Dieses Programm will Dukakis im nationalen Rahmen wiederholen und damit 110 Milliarden Dollar pro Jahr eintreiben. Sein Mitarbeiter Ira Jackson, Vater des Programms, hält dies für ausgeschlossen. Experten glauben, daß eine in Schwung gebrachte US-Steuerbehörde in fünf Jahren soweit sein könnte, zusätzliche 35Milliarden Dollar pro Jahr einzutreiben. Nur teilweise auf Dukakis‘ Konto geht allerdings der Wirtschaftsboom in Massachusetts, der die Arbeitslosigkeit von mehr als zwölf auf 3,2 Prozent sinken ließ. Dukakis hat den Boom geschickt gesteuert, so daß alle Teile des Bundesstaats an ihm teilhaben konnten. Doch finanziert wurde der Aufschwung zum guten Teil vom Reaganschen Rüstungsschub, der dieses Jahr fast neun Milliarden Dollar in die Hi-Tech-Firmen und die Super -Hochschulen des Staates schaufelt.

Zauberwort „Teamwork“

Mit ihrem Hang zur Suche nach pragmatischen Lösungen fehlt der Dukakis-Kandidatur der große Entwurf für das Amerika der neunziger Jahre, in dem es mit den aufstrebenden Wirtschaftsmächten Japan und dem ab 1992 vereinten europäischen Markt konkurrieren muß. Sein Zauberwort heißt „Teamwork“, eine Zusammenarbeit von Regierung, Unternehmen, Beschäftigten und Bürgern, um die produktiven Sektoren der amerikanischen Wirtschaft zu revitalisieren. Dazu braucht es mehr Kindertagesstätten, um Müttern die Berufstätigkeit zu ermöglichen, bessere Schulen und Hochschulen sowie mehr Forschung, um ein höher qualifiziertes Arbeitskräftereservoir zu schaffen.

„Als Prädident wird er sich nicht viel anders verhalten, als er es als Gouverneur getan hat“, sagt sein Mitarbeiter John DeVillars. Das Kunststück wird sein, eine aktive Arbeitsmarkt- und Industriepolitik zu betreiben, die gleichzeitig kostenneutral bleibt. Denn Dukakis will weder drastisch am Verteidigungshaushalt kürzen noch Steuern erhöhen. Fragen nach Finanzen in einer Dukakis -Administration werden von der Kampagne ohnehin als Tabu behandelt. Ihr Manager Paul Brountas meint, daß Dukakis in seinem ersten Jahr im Weißen Haus „vielleicht ein halbes Dutzend machbarer Programme“ lancieren würde. Konkret greifbar ist bisher nur ein Vorhaben eines Präsidenten Dukakis: Experten und Betroffene zur Suche nach Lösungen politischer Probleme zusammenzubringen. Ein Gipfeltreffen aller Staatschefs der amerikanischen Hemisphäre, von Kanada bis Chile, steht auf dem Programm; ebenso eine Regionalkonferenz der US-Bundesstaaten aus dem Farmgürtel. Die US-Außenpolitik wird sich am deutlichsten im südlichen Afrika ändern: die derzeitige Politik in Angola bezeichnet Dukakis als „absolut bizarr„; das Apartheid-Regime in Pretoria soll mit harten Wirtschaftssanktionen belegt werden. Alle anderen Konfliktregionen sind für Dukakis lediglich Herausforderungen, die streitenden Partner zum rationalen Konsens zu bewegen. Die Einladung an den Konferenztisch würde in einer Dukakis-Administration an die Stelle der Androhung militärischer Gewalt treten. In Zentralamerika hat Costa Ricas Präsident Arias die Dukakis -Außenpolitik bereits vorexerziert. Im Nahen Osten sollen die arabischen Staaten dem Vorbild Anwar Sadats folgen, das Existenzrecht Israels anerkennen und dann verhandeln. „Ich verstehe nicht, was daran so schwierig ist“, sagt ein ungeduldiger Mike Dukakis in einem Interview. Es lassen sich eben nicht alle Konflikte per rationalem Diskurs beilegen. Dukakis wird dann unberechenbar, wenn sich ein Problem dieser Strategie verweigert.

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