: Summer in the City oder Öko-Katastrophen in NYC
Saurer Regen, dort wo er noch fällt / Atlantik bringt Klärschlamm zurück / Dürre wie seit 50 Jahren nicht mehr / Krankenhausmüll am Strand bei fast 40 Grad Hitze / Deregulierung senkt Kosten und verschärft Müllprobleme / Politiker haben resigniert / „American way of life“ - der direkte Weg in die Öko-Katastrophe ■ Aus New York Elmar Altvater
„To Beach or not to Beach“ - das ist die Frage dieses Sommers in New York City. Die meisten Strände von Martha's Vineyard, 400 Kilometer im Norden, bis Cape May in New Jersey, dem kaputtindustrialisierten „Garden State“ im Süden New Yorks, sind seit Wochen - wenn überhaupt - nur noch für diejenigen offen, die sich mit einem Sonnenbad begnügen. An die 40 Grad Celsius herrschen in der Stadt - und an den mit der U-Bahn erreichbaren Strände von Long Island beginnt die Frustration. Die Strandwachen passen auf, daß niemand seine schwitzende Haut in den wie immer stoisch anrollenden Wogen des Atlantik kühlt. Es könnte nämlich geschehen, daß jemand mit gebrauchten Serumspritzen, Reagenzgläsern mit verkrusteten Blutproben, von denen einige angeblich Aids -verseucht und Hepathitis-infiziert sein sollen, mit Katheter-Röhren oder anderem medizinischem Abfall aus New Yorker Krankenhäusern und klinischen Laboratorien oder auch nur mit harmlosen Kondomen in Berührung kommt. Zu diesem unappetitlichen und unhygienischen Abfallprodukt moderner Hygiene hinzu kommt noch der von der unschuldigen Atlantikdünung zurückgeschwemmte New Yorker Klärschlamm, der 103 Meilen vor der Küste seit Jahren ganz legal verklappt wird. Und das soll mindestens bis 1991 so bleiben. Pro Kopf der 13 Millionen Einwohner-Stadt sind es auf das Jahr umgerechnet mehr als eine Tonne, die der Ozean wegschlucken soll - aber ganz entgegen den Planungen der Müllbeseitigungsspezialisten wieder ausspuckt. Inzwischen haben Untersuchungen gezeigt, daß sich die Meeresbiologie nicht nur im abgezirkelten Areal der Verklappung menschlicher „Dünnsäure“ verändert hat.
Die Landaufschüttung mit New Yorker Hausmüll am Fresh Kill (auf der Halbinsel Staten Island) ist eine weitere Quelle, aus der der Abfall ins Meer gelangt. Die offenen Schleppboote laden den Müll im New Yorker Hafen, bringen ihn auf die andere Seite der Bucht zwischen Manhattan und Staten Island und entladen ihn dort wieder. Dabei gehen schon einige Mülltonnen ganz normal über Bord; die 'New York Times‘ spricht von einer Tonne pro Schiffsladung. Die Unmengen von Plastik im Müll schwimmen oben, verteilen sich mit der Meeresströmung und werden an den Stränden angeschwemmt. Kein Wunder, daß die inzwischen so aussehen wie viele New Yorker Straßen: wie eine diffuse Müllkippe, wie das atemberaubende Konterfei der modernsten aller Industriegesellschaften.
Als ob das nicht schon reichen würde, ist gerade in dieser kritischen Periode eine New Yorker Kläranlage zusammengebrochen und hat über den Meeresarm Kill of Kull etwa 100 Millionen Liter ungeklärtes Abwasser und Klärschlamm in den Hafen von New York zu Füßen der über solche Kleinigkeiten erhabenen Freiheitsstatue ergossen. Mit den die Hitze in New York City auf schwüle 38 Grad hochtreibenden Südwestwinden verteilt sich die widerliche Sauce an den weißen Sandstränden, auf die New York sich ansonsten so viel einbildet. „Der Planet schlägt zurück“, klagt der New York City Health Comissioner Stephen C. Joseph. Zur Würdigung dieses Ereignisses erschien der wahlkämpfende Vizepräsident Bush am Strand von New Jersey. Nach einem kurzen Blick auf die schmutzige Bescherung entschwand der konservative Saubermann sogleich wieder zum nächsten Wahl-Termin.
Die Demokraten sind keinen Deut besser. Sie sind „concerned“, d.h. betroffen von allem, was amerikanischen Werten in der weiten Welt widerstreitet. Während ihres Parteikongresses in Atlanta war viel von amerikanischen Traditionen, ihrer Erneuerung und von der Einheit der Flügel in der Partei zwischen Bentson, dem Konservativen, und Jesse Jackson, dem Hoffnungsträger der Progressiven, die Rede. Die Umwelt ist auf der Strecke geblieben bei der „Donkey„ -Umarmung von Arbeit und Kapital, Schwarz und Weiß, Englisch - und Spanisch-Sprachigen, Mann und Frau, wie sie der Präsidentschaftskandidat „Duke“ Dukakis in seiner gefeierten Rede beschwor. „Seid umschlungen Millionen“ wird hier eben ganz wörtlich genommen. Und da auch drei Wochen, nachdem die ersten Spritzen in Long Beach und Jones Beach auf Long Island am 5.Juli - dem Morgen nach dem Unabhängigkeitstag und zwei Tage nach dem gelungenen Abschuß des Iranischen Airbus im Persischen Golf - angeschwemmt wurden, niemand mit Bestimmtheit sagen kann, woher der krankmachende Krankenhaus -Müll stammt, behilft man sich hier mit schwarzem Humor: „Halte eine Spritze ans Ohr, und Du kannst das Meer rauschen hören.“ Heilend war der Müllschock in bezug auf die leichte Verunsicherung, die sich in den USA wegen der Fehlfunktion ihres technisch so perfekten Überwachungs- und Feuerleitsystems Aegis im Golf breit gemacht hatte. Die Opfer wurden kurz bedauert und dann sogleich bei der Frage der Entschädigung in Dollar umgerechnet: Ein Kind und ein Greis sind danach weniger wert als eine ehemals, d.h. vor dem verunglückten Schuß des Kreuzers Vincennes, voll erwerbsfähige Person männlichen Geschlechts. Die 'New York Times‘ zitierte Government Officials, die von 25.000 bis 30.000 Dollar im letzteren Fall sprachen und entsprechende Abschläge bei den anderen ins Auge faßten.
Darüber hat sich niemand aufzuregen vermocht; nur der Senator Green hat kleine Plakate in New York kleben lassen, man solle doch die „Tragödie des Persischen Golfes“ nicht so schnell vergessen. Der Müll an den Stränden hat alles andere zugekippt. „Dieser Sommer ist gelaufen“, klagen die New Yorker, die - anders als im sozial besser entwickelten Europa - allenfalls vierzehn Tage Ferien im Jahr haben und daher auf ihre umliegenden Strände zur Kurzzeit-Erholung angewiesen sind. In den vielen Artikeln in allen Tages- und Wochenzeitungen über die ökonomischen Auswirkungen auf das Erholungs-Business in den betroffenen Regionen kann man die langen Gesichter zwischen den Zeilen sehen. Doch wer die Serumspritzen und Hepathitis-Proben, die Blut-Violen und Kondome am Strand für eine Katastrophe halten sollte, der hat den Ernst der Lage nicht ganz begriffen. Stephen C. Joseph erklärte gegenüber der 'New York Times‘: „Die Spritzennadeln am Strand sind nun mal Bestandteil der Ökologie New Yorks.“ Punktum.
Und natürlich haben sie auch mit der Ökonomie dieser Riesenstadt zu tun. Es gibt auch im weitgehend privatisierten und deregulierten Krankenhaussektor gesetzliche Vorschriften über die Handhabung des verseuchten Mülls, der in rote Plastiksäcke verpackt einer Sonderbehandlung zugeführt werden muß. Auf dessen kontrollierte Beseitigung durch Verbrennung (in Kanada und North Carolina, an die 1.000 Kilometer von New York entfernt) haben sich Firmen spezialisiert. Die ordentliche Müllbeseitigung ist nicht gerade billig, sie kostet ein durchschnittliches Krankenhaus bis zu 1.600 Dollar pro Tonne, also mehr als das Zehnfache der Beseitigung von Normalmüll. Bei heftigem Wettbewerb könnte es schon sein, daß Krankenhäuser oder Untersuchungslabors Kosten zu sparen versuchen, indem sie ihren Giftmüll entweder unter den Normalmüll mischen oder ihn durch Billigfirmen („Midnight -Dumper“) „entsorgen“ lassen.
Die Blutproben könnten der Hochsee auch von den 22 Blutuntersuchungslabors anvertraut worden sein, die kürzlich in einem großangelegten Betrugsskandal aufgeflogen sind: Gegen fünf bis zehn Dollar entnahmen diese Labors bei Drogenabhängigen, die sie auf der Straße aufgelesen haben, Blut und kassierten für die - nutzlose - Analyse bei der staatlichen Gesundheitsbehörde 250 bis 300 Dollar je Probe. Als die Praxis herauskam, waren die bereits gezogenen Blutproben nichts mehr wert, sie konnten nicht mehr in cash verwandelt werden; möglicherweise haben die Labors sich ihrer auf die für sie billigste Art und Weise entledigt. Aber der Nachweis fällt schwer; denn in New York werden in Krankenhäusern jährlich 100 bis 150 Millionen Spritzen verbraucht und außerhalb der Hospitäler in Haushalten (von Diabetikern z.B.) noch einmal so viel. Dann bleibt die Dunkelziffer der von den geschätzten 250.000 Drogensüchtigen verbrauchten Spritzen. Ein großer Teil dieser enormen Zahl dürfte ganz normal im Hausmüll landen und z.B. bei der Landaufschüttung „ganz legal“ in den Atlantik gelangen. Offensichtlich ist es schwer herauszufinden, wer der Schurke in diesem Spiel ist und aus welcher Drecksquelle der Müll stammt, der für die sommerliche Aufregung sorgt.
In New York muß der Müll schon dick kommen, um jemanden zu erschrecken. In bis zu drei Meter hohen Bergen aus schwarzen Müllsäcken geschichtet liegt er Nacht für Nacht nach der in Plastik noch und nöcher eingewickelten Massenverpflegung eines langen Tages vor jedem Fast Food Restaurant und wartet auf die Müllabfuhr. Und wenn er nicht ordentlich versackt ist, dann fliegt er auf den Straßen herum. Die „Ex- und -hopp„-Haltung im öffentlichen Raum der Straßen ist noch immer, wenn auch gebrochen, vorhanden. Die Nimby-Bewegung („Not in my backyard“) gegen schmutzige Industrien, gefährliche Emissionen, verteidigt eben eher den eignen privaten Bereich als die öffentlichen Plätze - jedenfalls in Städten wie New York. Im sauberen New England oder auf den Highways in Illinois kann es schon passieren, daß jemand, der eine leere Bierdose wegwirft, dafür bis zu drakonische 500 Dollar Strafe zahlen muß.
Der Krankenhaus-Müll der Strände ist eben nur die Fortsetzung dessen, was in den Straßen New Yorks zum alltäglichen Leben gehört. Es sind die Übertreibungen des Alltäglichen, die sicht- und fühlbaren Spitzen des Normalen, die die Story interessant machen und Rückfragen provozieren. Also wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen den New Yorker Müllstränden und den anderen Umweltkatastrophen, die sich derzeit ereignen. Haben die verkrusteten Blutproben und gebrauchten Spritzen an den New Yorker Stränden etwas mit der Dürre im Nordwesten zu tun, die so schlimm ist wie seit 50 Jahren nicht mehr? Sind die gestorbenen (nicht mehr sterbenden) Wälder in den Appalachean Mountains von North Carolina bis Maine die Vorboten der ökologischen Katastropen der ganzen Region? Sind dies die sichtbaren Zeichen des „Gewächshauseffekts“, also der CO2-Aufheizung der Erdatmosphäre infolge der übermäßigen Verbrennung von fossilen Stoffen in Autos, in Kraftwerken, in Müllverbrennungsanlagen, Industriebetrieben? Wozu summieren sich die ungewöhliche dröhnende Hitze und die wegen des Krankeshausmülls geschlossenen Badestrände? Die 'New York Times‘ ist in diesen Wochen voll mit diesen und ähnlichen Fragen. Sogar die Menschenkette am Sylter Strand gegen das Seehundsterben in der Nordsee ist dieser in der Nachrichtenauswahl höchst betulichen Zeitung ein nachdenkliches Bild wert.
Dennoch, die Antworten sind konventionell: Die Probleme sind so groß, daß kleine Lösungen nichts bewirken. Große Lösungen sind so schwierig, daß möglichst das Problem nicht aufgeworfen werden sollte. Also bleibt die Frage und ansonsten alles beim Alten. Denn immerhin ist der „american way of life“ so energieintensiv, daß weniger als acht Prozent der Erdbevölkerung mehr als 26 Prozent der Energie konsumiern. Wie sollte diese Verrücktheit geändert werden ohne eine radikale Umkehr im Lebensstil der Bevölkerung? Gerade jetzt vier Monate vor der Präsidentenwahl wird aber keine Partei Zumutungen dieser Art auch nur antippen abgesehen von der wunderbar legitimationswirksamen Nichtraucherkampagne, die schamlos das schlechte Gewissen der Raucher ausnutzt und so Handlung vortäuschen kann. Der wirkliche Handlungsbedarf in Sachen Umwelt- und Gesundheitsschutz bleibt sanktionslos unbefriedigt. Alles bleibt beim Alten. Die Strände New Yorks bleiben geschlossen, fatum est.
Die Bergleute, so erzählt ein Ökologe aus den Appalachean Mountains, haben, bevor sie genauere Meßgeräte hatten, Kanarienvögel mit in die Grube genommen, die die Bergleute vor Grubengas warnten, indem sie trillernd starben. In den Wäldern der Appalachean Mountains und an den Stränden New Yorks haben die Kanarienvögel getrillert. Doch anders als in der Grube der Bergleute verläßt niemand den Schacht. Der nächste Katastrophensommer ist gesichert.
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