WESTEUROPA KOMMT

■ Es stimmt: Vier Typologien

So steht es an der Wand am Görlitzer Bahnhof. Da, wo früher mal Bolle war. Mitten in Kreuzberg. Unverzagt stehen sie vor der historischen Stätte und betrachten einen Parkplatz. Zu zweit oder in kleinen Grüppchen, den Fotoapparat oder neuerdings häufiger - eine dieser winzigen Videokamaras diskret im Citybag verborgen. Sie verirren sich vorzugsweise zu Fuß oder mit der BVG. Dann fallen sie über dich her, fragen dich nach dem Weg. Das ist die seltene Gelegenheit, sie in die Wüste zu schicken.

Kreuzberg-Touristen, gehaßt, geschmäht, ausgenommen. Studenten aus Hildesheim, Krankenschwestern aus Bad Bergzabern und Punkrocker aus Karlsruhe. Da sitzen sie dann am Heinrichplatz, pastellfarben kostümiert und trinken Weizen in einer der originellen, urgemütlichen Bierlokale. Wenn mam sie anpöbelt, freuen sie sich über die Berliner Schnauze, wenn ihr Auto zu Kunst am Bau verarbeitet wird, ist das ein Erlebnis, von dem sie monatelang zu erzählen haben. Wir haben unsere Abscheu überwunden und diese seltsame Spezies Mensch etwas genauer unter die Lupe genommen. Es wurden hauptsächlich vier Spielarten beobachtet:

1. Der Besuch. „Hör mal, wir wollten nächstes Wochenende...“, klingt es fernwestdeutsch aus dem Telefonhörer, und du weißt, was die Bekannten von damals nach so langer Zeit plötzlich wollen. Jetzt heißt es: das Gästebett aufklappen, die Platten sichern und den Kühlschrank mit billigem Bier anfüllen. Zu unmenschlicher Tageszeit, mindestens einen halben Tag verspätet, kommen sie an. Gnadenlos amüsierwillig, machen sie aus dem arglosen Gastgeber einen unterbezahlten Animateur. Sie bleiben drei bis vier Tage, und die verbringen sie mit Nachtleben. Breit wie ein Zuchthaus torkeln sie anschließend, währenddessen und vorher durch Nebenstraßen und versuchen vergeblich, sich so zu benehmen wie die Eingeborenen. In dem Zustand taugen sie nicht mal zu Frischfleisch für den Markt auf der Meile.

2. Politpilger. Kongreßstadt Berlin, ob IWF oder Kronstadt, die Metropole ruft und alle alle kommen. Mit wichtiger Miene, mitten in der Woche in schwarzlederner Samstagsabend -Ausgeh-Uniform folgen sie ihren Notizzetteln. Auf der Suche nach den eigenen „Strukturen“ landen dann fast alle in derselben Kneipe, um sich gegenseitig die Revolution zu erklären. Ansonsten trifft man sie am ehesten bei folkloristischen Veranstaltungen wie der allwöchentlichen Verbrennung eines Sofas auf dem Heinrichplatz. Ihr Faible für solche mystischen Rituale wird aufs Vortrefflichste ergänzt durch einen entwickelten Devotionalienhandel. Dokumentationen, T-Shirts und Postkarten künden den Lieben daheim vom Besuch im Herzen der Bestie. Prädikat: Kanonenfutter.

3. Die Privaterkunder. Ausgestattet mit Stadtplan und Alternativ-Reiseführer, reichlich Zeit und eigenem Quartier in einer verreisten Wohngemeinschaft, machen sie auf Kultur. Breitärschig hocken sie auf den besten Plätzen im Theater und beklatschen jeden Müll, voll der dumpfen Verehrung für alles, was die Kritiker einschlägiger Medien als Kunst bezeichnen. Da spüren alle: Der verderbliche Einfluß dieser Leute läßt das Niveau der türkischen Restaurants sinken und die Sektpreise steigen. Frühmorgens stehen sie im Hinterhof und fotografieren Frühstückstische. Ohne Erbarmen gehen sie spazieren, bei einem Wetter, das nicht einnmal Bullen aus den Kasernen treiben würde. Aber immerhin: Ganz oben auf der Welle des Zeitgeistes gehen sie der allgemeinen Verblödung voran und zeigen sich als begeisterte Konsumenten selbst der allerdümmsten Grafftis.

4. Die Oberschüler. Als Individuen weitgehend harmlos und folgsam, stellen die Horden, in denen sie auftreten, eher eine räumliche Belästigung dar. Sie bleiben an roten Ampeln stehen und schieben sich genau dann in die U-Bahn, wenn du versuchst, auszusteigen. Die emanzipierten Überreste solcher Gruppen erliegen schließlich den Verlockungen der großen Stadt und setzen sich mutig über die Nachtruhe-Lichtaus -Vorschriften der Heim- und Lagerordnung hinnweg. Völlig enthemmt vom ungewohnten Drogenkonsum, sei es Alkohol oder Krawall, ziehen sie gegen Mitternacht unter Absingen unflätigen Liedgutes zurück in die Jugendherberge.

Dann gibt es da noch die Dableiber. (o gott. sezza.) Spätestens nach vier Wochen weist diese Sonderform die Bezeichnung „Tourist“ empört von sich und entwickelt einen ausgeprägten Hang zum Lokalpatriotismus. Auf Kreuzberg lassen sie nichts kommen, ha noi? Sie können jahrelang im Zoo leben, ohne auf die Idee zu kommen, es gäbe eine Welt jenseits des Zaunes. Aber irgendwann sind wir sie wieder los. Dann nämlich behaupten sie, die Stadt - oder was sie dafür halten - mache sie fertig. Sie verschwinden Richtung Sauerland, um eine Familie zu gründen und Papis Firma zu übernehmen.

Westeuropa kommt und vielleicht ist Urlaubmachen die angemessenste Antwort darauf, Doch grau ist alle Theorie, und man bleibt - trotz der Touristen. Denn wir lieben sie. Und wir brauchen sie. Wer sonst würde uns bestaunen und beneiden, einzig aufgrund der banalen Tatsache, daß wir in 36 wohnen?(Es lebe die Selbstbeweihräucherung! die k.)

blofeld